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Angela Y. Davis:
Der maskierte Rassismus / Der industrielle Gefängniskomplex


Das Gefängnis ist mittlerweile zu einer der ersten Antwort auf die sozialen Probleme geworden, die die Menschen in Armut bedrücken.
Diese Probleme werden häufig verschleiert, indem sie bequemerweise unter der Überschrift "Kriminalität" zusammengefasst und kriminelles Verhalten dann automatisch Afro- und LatinoamerikanerInnen zugeordnet wird. Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Drogenabhängigkeit, Geisteskrankheiten und Analphabetismus sind nur einige der Probleme, die aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwinden, sobald die Menschen, die mit ihnen konfrontiert sind, hinter Gittern verschwinden. So gesehen haben Gefängnisse geradezu magische Kräfte.
Aber Gefängnisse lassen nicht Probleme verschwinden, sie lassen Menschen verschwinden. Und tatsächlich ist diese Praxis ein großes Geschäft geworden, immer mehr arme, immigrierte Menschen aus rassistisch marginalisierten Communities verschwinden zu lassen.
Hinter der scheinbaren Leichtigkeit eines Zaubertricks verbirgt sich allerdings ein enormer Arbeitsaufwand. Wenn Gefängnisse Menschen verschwinden lassen, um die Illusion zu vermitteln soziale Probleme könnten gelöst werden, müssen die Infrastrukturen in den Gefängnissen so ausgebaut werden, daß sie in der Lage sind, eine schnell ansteigende Bevölkerung von Gefangenen aufzunehmen. Güter und Dienstleistungen müssen geliefert werden, um die Gefängnisbevölkerung am Leben zu erhalten. Manchmal müssen die Menschen in den Gefängnissen beschäftigt werden und manchmal - speziell in den repressiven Hochsicherheitsgefängnissen - müssen sie praktisch von jeder sinnvollen Arbeit abgehalten werden.

Diese Arbeit, die bisher immer eine hoheitliche Aufgabe des Staats war, wird jetzt auch von Privatunternehmen übernommen, deren Verbindungen zum Staat in dem Sektor, den man euphemistisch "Strafvollzug" nennt, verdächtig nach dem militärisch-industriellen Komplex klingen.
Die Dividenden, die durch die Investitionen in die Bestrafungsindustrie aufkommen, führen wie die der Investitionen in die Waffenindustrie nur zur Zerstörung. Wenn man die strukturellen Übereinstimmmungen und die Gewinnträchtigkeit der Verbindungen zwischen Regierung und den Unternehmen im Reich der militärischen Produktion und dem staatlichen Justizsystem berücksichtigt, kann das expandierende Strafvollzug-system mit Recht als "industrieller Gefängniskomplex" bezeichnet werden.

Die Farbe der Gefangenschaft
Zur Zeit sind fast zwei Millionen Menschen in dem riesigen Netzwerk der US-Gefängnisse eingesperrt. Mehr als siebzig Prozent der Inhaftierten sind Afro- oder LatinoamerikanerInnen.
Es wird selten zur Kenntnis genommen, daß die am schnellsten wachsende Gefangenengruppe schwarze Frauen sind und daß prozentual zum Bevölkerungsanteil die indí-genen AmerikanerInnen die größte Gruppe stellen. Annähernd fünf Millionen Menschen, einschließlich derjenigen auf Bewährung oder im Freigang, unterstehen direkt der Aufsicht des Justizwesens.
Elliott Currie drückt dies so aus: " Das Gefängnis hat, wie nie zuvor in unserer Geschichte oder der jedes anderen demokratischen Industrielandes, eine bedrohliche Präsenz in unserer Gesellschaft erreicht. Direkt nach großen Kriegen ist die Masseninhaftierung zur Zeit das am sorgfältigsten durchgeführte Sozialprogramm der Regierung geworden."
Damit die Körper geliefert werden können, die für das gewinnorientierte Strafvollzugsystem bestimmt sind, beruht die politische Ökonomie der Gefängnisse auf rassi(sti)sch orientierten Annahmen über Kriminalität - z.B. solcher Bilder schwarzer Mütter, die Sozialhilfe bekommen und kriminelle Kinder großziehen - und auf rassistischen Mustern bei der Festnahme, der Verurteilung und den Strafmaßen.
Die Körper von Afro- und Latinoamerikaner-Innen sind in diesem riesigen Experiment der Hauptrohstoff, um die sozialen Probleme unserer Zeit verschwinden zu lassen. Entkleidet man die Gefängnis"lö-sung" aber ihrer magischen Aura, kommen Rassismus, Klassenvorurteile und die parasitäre Abschöpfung kapitalistischer Profite zum Vorschein.
Das industrielle Gefängnissystem führt zur materiellen und moralischen Verarmung seiner Bevölkerung und verschlingt den sozialen Reichtum, der eigentlich gebraucht würde, um genau die Probleme angehen zu können, die zu der immer größer werdenden Zahl von Gefangenen geführt haben. Da Gefängnisse immer mehr Platz auf der sozialen Landkarte einnehmen, werden andere Regierungsprogramme bis hin zu ihrer faktischen Abschaffung gekürzt, mit denen bisher versucht wurde, auf soziale Bedürfnisse einzugehen, wie z.B. die "Zeitlich Begrenzte Hilfe für Bedürftige Familien" (Temporary Assistance to Needy Families).
Die Verschlechterung der Standards im staatlichen Bildungswesen sind direkt mit der Gefängnis"lösung" verknüpft.

Wer macht Gewinn mit den Gefangenen?
Da sich Gefängnisse in der US-amerikanischen Gesellschaft immer weiter ausbreiten, hat sich das Privatkapital in die Bestrafungsindustrie miteingeschaltet.
Und aufgrund ihres Gewinnpotentials werden Gefängnisse immer wichtiger für die amerikanische Wirtschaft. Wenn schon die Idee an sich irritierend ist, daß Bestrafung eine Quelle potentiell erstaunlicher Gewinne sein kann, dann ist die strategische Abhängigkeit von rassistischen Strukturen und Ideologien, um die Massenbestrafung profitabel und befriedigend zu bewerkstelligen, noch um vieles beunruhigender.
Die Privatisierung der Gefängnisse ist das offensichtlichste Beispiel für den augenblicklichen Trend des Kapitals hin zur Gefängnisindustrie. Während staatliche Gefängnisse die internationalen Men-schenrechtsstandards oft grob mißachten, gilt dies für die privatgeführten Gefängnisse noch umso mehr.
Im März diesen Jahres konstatierte die Corrections Corporation of America (CCA), das größte private Gefängnis-unternehmen in den USA, daß in ihren 68 Einrichtungen in den USA, Puerto Rico, Großbritannien und Australien 54.944 Betten entweder schon unter Vertrag stünden oder in der Entwicklungsphase seien. Gemäß dem weltweiten Trend, Frauen verstärkt dem öffentlichen Bestrafungssystem zu unterwerfen, hat die CCA kürzlich ein Frau-engefängnis in der Nähe von Melbourne eröffnet.
Das zweitgrößte Gefängnisunternehmen in den USA, die Wackenhut Corrections Corporation, gab an, Verträge für 46 Einrichtungen in Nordamerika, Großbritannien und Australien zu haben. Bei ihnen stünden insgesamt 30.424 Betten zur Verfügung, wie auch Verträge über den Gesundheits- und Sicherheitsdienst und den Transport der Gefangenen. Die Börsenkurse der beiden Unternehmen zeigen steil nach oben.
Im Vergleich zu 1996 sind die Gewinne von CCA 1997 von 293 Mio. auf 462 Mio. um 58 % gestiegen. Der Nettogewinn des Unternehmens stieg von 30,9 Mio. US-Dollar auf 53,9 Mio. US-Dollar. WCC konnte seine Gewinne von 138 Mio.1996 auf 210 Mio. 1997 steigern. Anders als in den staatlichen Gefängnissen beruhen diese riesigen Gewinne in den privatgeführten Gefängnissen darauf, daß keine Gewerkschaftsmitglieder beschäftigt werden.

Der industrielle Gefängniskomplex
Aber private Gefängnisunternehmen sind nur der sichtbarste Teil der steigenden Privatisierung des Strafvollzugsystems. Für die Bauindustrie sind Regierungsaufträge für neue Gefängnisse immer wichtiger geworden. Technologien, die für das Militär z.B. von Unternehmen wie Westinghouse entwickelt worden sind, werden für den Einsatz bei der Polizei und dem Strafvollzugsystem angepriesen.
Dazu kommt, daß Unternehmen, die mit dem Strafvollzugsbusiness nichts zu tun zu haben scheinen, sehr eng in die Ausweitung des industriellen Gefängniskomplex involviert sind. Wechsel auf Gefängnisneubauten sind eine der vielen Möglichkeiten profitabler Investitionen für führende Finanzhäuser wie z.B. Merrill Lynch.
Die Telefongesellschaft MCI verlangt von den Gefangenen und ihren Familien astronomische Summen für die wertvollen Telefongespräche, die oft der einzige Kontakt mit der Außenwelt sind. Viele Unternehmen, deren Produkte wir täglich konsumieren, haben erkannt, daß die Arbeitskraft in den Gefängnissen genauso profitabel sein kann, wie die Arbeitskraft aus der Dritten Welt.
Beide Ausbeutungsformen führen zur Entlassung früher gewerkschaftlich organisierter Arbeiter und viele von ihnen landen schließlich sogar im Gefängnis. Einige der Unternehmen, die auf Gefängnisarbeit zurückgreifen, sind IBM, Motorola, Compaq, Texas Instruments, Honeywell, Microsoft und Boeing.
Aber nicht nur High-Tech-Unternehmen schöpfen den Profit der Gefängnisarbeit ab. Die Kaufhauskette Nordstrom verkauft Jeans, die in "gefängnisblau" angeboten werden, wie auch T-Shirts und Jacken, die aus Gefängnissen Oregons kommen. Der Werbeslogan für diese Kleider: "Drinnen gemacht, um draußen getragen zu werden".
Die Gefangenen in Maryland prüfen Glasflaschen, die dann von Revlon und Pierre Cardin verkauft werden und Schulen in der ganzen Welt kaufen Diplo-mantenhüte und Umhänge, die von Gefangenen in South Carolina hergestellt wurden.
"Für Privatunternehmen", schreiben Eve Goldberg und Linda Evans (eine politische Gefangene in der Strafvollzugsan-stalt Dublin in Kalifornien),
"ist Gefängnisarbeit eine Goldader. Keine Streiks. Keine gewerkschaftliche Organisierung. Keine Krankenversicherungskosten, keine Arbeitlosenversicherung oder Ausgleichszahlungen für ArbeiterInnen. Keine Sprachbarrieren wie im Ausland. Neue riesige, schreckerregende Gefängnisfabri-ken werden auf tausenden von Hektar innerhalb der Anstaltsmauern gebaut. Gefangene erledigen die Datenerfassung für Chevron, übernehmen Telefonreser-vierungen für TWA, züchten Schweine, schaufeln Dünger, stellen Stromleiter her, Limousinen, Wasserbetten und Unterwäsche für Victoria's Secret - alles zu einem Bruchteil der Kosten der 'freien Arbeit'."

Wer verschlingt den sozialen Reichtum?
Obwohl Gefängnisarbeit - die weit unter dem Minimallohn bezahlt wird - für die beteiligten Unternehmen sehr profitabel ist, produziert das Strafvollzugsystem insgesamt keinen Wohlstand. 1996 und 1997 gab die Regierung nur 8,7% des Gesamthaushalts für Universitäten und Fachhochschulen aus, während 9,6% für das Strafrechtssystem ausgegeben wurden.
Jetzt, da Quoten für Minderheiten in Kalifornien für illegal erklärt worden sind, ist es offensichtlich, daß das Bildungswesen mehr und mehr nur für bestimmte Menschen reserviert ist, während das Gefängnissystem für andere reserviert bleibt. Im Augenblick sind fünfmal so-viele afroamerikanische Männer im Gefängnis wie an Colleges oder Universitäten. Diese neue Segregation hat gefährliche Auswirkungen für das ganze Land.

Indem als Kriminelle bezeichnete Menschen segregiert werden, verstärken und verdecken Gefängnisse gleichzeitig den strukturellen Rassismus der amerikanischen Wirtschaft.
Behauptungen über geringe Arbeitslosenraten - sogar in schwarzen Communities - machen nur dann Sinn, wenn davon ausgegangen wird, daß die große Zahl der Menschen hinter Gittern wirklich verschwunden ist und daher keinen legitimen Anspruch auf eine Arbeit hat. Die Zahl der eingesperrten latino-und afroamerikanischen Männer beläuft sich auf 2% des gesamten männlichen Arbeitskraftreservoirs. Der Kriminologe David Downes sagt:
" Wenn man die Gefangenschaft als eine Art versteckte Arbeitslosigkeit ansieht, steigt die Arbeitlosenquote für Männer um ein Drittel auf 8%. Die Auswirkungen auf die Arbeitslosenrate unter afroamerikanischen Männern sind sogar noch größer, statt 11% steigt die Arbeitslosenrate auf 19%."

Die versteckte Agenda
Massenhafte Gefängnisstrafen sind keine Lösung für Arbeitslosigkeit und auch keine Lösung für die große Bandbreite sozialer Probleme. Der Rassismus hat unsere Fähigkeit untergraben, eine öffentliche Diskussion über die falsche Ideologie zu beginnen, die die Gefängnisse als den Schlüssel zu größerer öffentlicher Sicherheit propagieren.
Das Hauptaugenmerk der Regierung verschiebt sich zügig weg von Sozialhilfe hin zu sozialer Kontrolle. Afro- und Latinoamerikanische, indogene und viele asiatische Jugendliche werden als Vertreter von Gewalt und Drogendealer dargestellt, voll Neid auf die Güter, die sie nicht besitzen. Junge Afro- und Latinoamerikanerinnen werden der sexuellen Promiskuität geziehen und es wird ihnen unterstellt, sie produzieren ungehemmt Babies und Armut.
Kriminalität und abweichendes Verhalten werden rassistisch aufgeladen. Die Überwachung wird auf die schwarzen Communities konzentriert, auf Einwanderer, Arbeitslosen, Schulabgänger ohne Abschluß, Obdachlosen und generell all diejenigen, die einen immer kleineren Anspruch auf die sozialen Ressourcen geltend machen können.
Ihr Anspruch verringert sich, weil Polizei und Strafvollzugsystem diese Ressourcen zusehends verschlingen. Der industrielle Gefängniskomplex hat so einen Teufelskreis geschaffen, der die Armut derer vertieft, deren Verarmung durch Gefangenschaft angeblich "gelöst" wurde.
Der Schwerpunkt der Regierungspolitik hat sich von der Sozialhilfe auf Krimina-litätskontrolle verlagert. Der Rassismus vertieft sich immer mehr in den ökonomi-schen und ideologischen Strukturen der US-Gesellschaft.
Während sie sich gegen die Quoten für Minderheiten und zweisprachige Schulerziehung aussprechen, verkünden konservative Kampagnenführer das Ende des Rassismus. Ihre Gegner behaupten, die Reste von Rassismus würden durch Dialog und Gesprächskreise beseitigt werden. Aber den industriellen Gefängniskomplex werden Ge-sprächskreise über "Rassenbeziehungen" nicht abschaffen können, da er doch den in die tieferen Gesellschaftsstrukturen eingewoben Rassismus nährt und von ihm lebt.
Im Kontext eines alles überschwem-menden Konservatismus markiert die Entstehung des industriellen Gefängnis-komplexes eine neue historische Epoche, deren Gefahren ohne Beispiel sind. Dies gilt allerdings auch für die Chancen dieser Epoche. Wenn man sich die eindrucksvolle Zahl selbstorganisierter Projekte vergegenwärtigt, die weiterhin der Expansion der Bestrafungsindustrie widerstehen, sollte es doch auch möglich sein diese Kräfte für eine radikale, landesweit sichtbare Bewegungen zusammenzubringen, die eine antikapitalistische Kritik an dem industriellen Gefängniskomplex formulieren. Es sollte möglich sein, Bewegungen für die Menschenrechte der Gefangenen zu schaffen, ebenso wie überzeugend darzulegen, daß wir nicht neue Gefängnisse, sondern ein Gesundheitssystem, Wohnungen, Bildung, Drogenentzugsprogramme und Arbeitsplätze brauchen.

Um eine demokratische Zukunft zu gewährleisten, ist es notwendig und auch möglich, die vielen und immer mehr werdenden Stränge des Widerstandes gegen den industriellen Gefängniskomplex zusammenzubringen, um eine machtvolle Bewegung für soziale Transformation zu schaffen.

Angela Davis, langjähriges Mitglied der KPdUSA, war Anfang der 70er Jahre angeklagt, den Versuch, George Jackson (Black Panther) zu befreien ,unterstützt zu haben.
Auch durch eine weltweite Solidaritätskampagne endete ihr Verfahren mit einen Freispruch.
Angela Davis hat heute einen Lehrstuhl an der Universität.
Der hier leicht gekürzte Artikel erschien zuerst in dem Magazin "ColorLines", Herbst 1998


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