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Willkommen in Guantanamo

Verhaftet, verfrachtet und als «feindliche Kombattanten» auf unbestimmte Zeit eingesperrt: Der britische Journalist James Meek sprach mit ehemaligen Insassen des umstrittenen Gefangenenlagers und gibt Einblick ins kafkaeske Justizsystem des Pentagons. «In den Maschendrahtzellen sind die Gefangenen keinen Moment unbeobachtet»: das inzwischen geschlossene Camp X-Ray. Ein Sommertag 2002 im Gefangenenlager Guantanamo. Der 31-jährige Pakistaner Abdul Razaq, von Beruf Englischlehrer, bemerkt etwas Ungewöhnliches in einem der benachbarten Drahtkäfige. Ein pakistanischer Mithäftling, Shah Mohammed, versucht, sich mit einem Stück Stoff am Zaun aufzuhängen. Andere Häftlinge sehen das, schlagen Alarm. «Erst riefen wir ihm zu, er solle aufhören», sagt Razaq, der im Juli aus der Haft in Guantanamo entlassen wurde und nach weiteren drei Monaten Haft in Pakistan im Oktober nach Hause zurückkehrte. «Die Wärter kamen herbei und retteten ihn. Er schien bewusstlos.» Das war der erste von vier Selbstmordversuchen, die Shah Mohammed in Guantanamo verübte. Der 23-Jährige wurde im Mai entlassen und lebt jetzt in der Nähe von Peschawar. Seit seiner Heimkehr plagen ihn Alpträume. Zehnmal wurde er in Kandahar und Guantanamo verhört. «Meine körperliche und seelische Verfassung ist schlecht. Ich habe mich sehr verändert», sagt er. «Ich lache nicht mehr, habe keine Freude mehr am Leben.»

40 Nationalitäten, 18 Sprachen

Auf die Frage, warum er so oft versucht habe, sich das Leben zu nehmen, antwortet er ausweichend. Er habe sich Sorgen gemacht, um die Familie, die Gesundheit der Mutter, das Geschäft des Bruders und um seine «eigenen Probleme». Die Suizidversuche in Guantanamo begannen jedoch, nachdem man ihn, ohne Erklärung, für einen Monat in eine Isolationszelle gesteckt hatte – aber nicht weil er gegen irgendwelche Vorschriften verstossen hatte, sondern weil die Amerikaner keine andere Unterbringungsmöglichkeit hatten. Im «India Block», wie die Strafabteilung genannt wird, «gab es keine Fenster. Vier Wände und ein Dach aus Blech, eine Glühbirne und Klimaanlage. Die Klimaanlage wurde angestellt, es war unwahrscheinlich kalt. Morgens wurde die Glühbirne herausgeschraubt und abends wieder eingeschraubt. Einen Monat verbrachte ich in dieser Zelle. Auf die Frage, ob das eine Strafe sei, antwortete der Dolmetscher: ‹Nein, das hat der General angeordnet.›» Mohammed bekam wegen seiner labilen Verfassung ein unbekanntes Mittel injiziert, gegen seinen Willen. «Sieben, acht Leute hielten mich fest, während sie mir die Spritze gaben.

Ich konnte nicht zu Boden schauen, nicht hochschauen. Einen Monat war ich wie gelähmt, ich konnte nicht denken, nichts. Sie haben mir Beruhigungstabletten gegeben und nur gesagt: Dein Gehirn funktioniert nicht richtig. Sie haben mir diese Medikamente und Spritzen gegen meinen Willen gegeben. Einige von uns bekamen jeden Monat eine Spritze.» Wer wissen will, wie der Alltag im US-Gefangenenlager Guantanamo aussieht, kann sich eigentlich nur an die wenigen mittlerweile entlassenen Häftlinge wenden, fast durchweg Pakistaner und Afghanen. Journalisten dürfen das Lager besichtigen, haben aber, ebenso wie Familienangehörige, Anwälte und Menschenrechts-aktivisten, keinen Zugang zu den Inhaftierten selbst. Doch die Aussagen dieser Ex-Häftlinge, dazu einige wenige Informationen aus zensierter Post, offizielle Erklärungen und Äusserungen von Wärtern und anderen Personen, die im Lager waren, fügen sich zu einem Bild. In den zwei Jahren seines Bestehens hat sich dieses hastig und provisorisch eingerichtete Lager zu einem Bastard des Völkerrechts entwickelt. Die ausländischen Insassen bekommen dort die ganze Härte der US-Justiz zu spüren, geniessen keines der Rechte, wie sie amerikanischen Häftlingen zustehen. Dazu kommt die psychologisch verheerende Aussicht auf zeitlich unbegrenzte Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren und Einspruchsmöglichkeit.

Eine der wenigen politischen Äusserungen, die der Aufmerksamkeit des Zensors entgingen, findet sich auf einer Postkarte, die der französische Häftling Nizar Sassi im August 2002 an seine Familie schrieb: «Wenn man Guantanamo definieren wollte: Hier ist man völlig rechtlos.» Nach den Anschlägen vom 11. September reagierte die US-Regierung schnell. Binnen 26 Tagen fanden die Luftangriffe in Afghanistan statt, Kabul fiel binnen neun Wochen. Elf Wochen später war der Widerstand der Taliban und ihrer nichtafghanischen Verbündeten in Nordafghanistan gebrochen. Während sowohl Osama Bin Laden als auch dessen Taliban-Mitstreiter Mullah Omar flüchtig blieben und auch das Terrornetzwerk al-Qaida längst nicht zerschlagen war, errichteten die Amerikaner auf einer karibischen Insel ein Sammellager.

Dorthin wurden Personen aus der ganzen Welt verfrachtet, die man als Terroristen verdächtigte. Da die rund 660 Häftlinge von Guantanamo keine Stimme haben und die Amerikaner in keinem einzigen dieser Fälle eine Begründung für die Inhaftierung vorgelegt haben, verfügt die Aussenwelt nur über die Berichte von Familienangehörigen und die pauschale US-Definition «feindlicher Kombattant». Die meisten wurden in Afghanistan verhaftet, viele wurden aber von anderen Ländern an die US-Behörden ausgeliefert. «Es ist eine äusserst heterogene Gruppe. Etwa vierzig Nationalitäten, achtzehn verschiedene Sprachen», sagt der Gerichtspsychiater Daryl Matthews, der im Mai eine Woche in Guantanamo war. «Auf der einen Seite die Arabisch-Sprechenden, auf der anderen die Urdu- beziehungsweise Paschtu-Sprechenden. Es gibt hochgebildete und völlig Ungebildete. Manche sind blutjung, manche sehr alt und weise. Manche sprechen ausgezeichnet Englisch, andere überhaupt nicht. Manche sind sehr religiös, manche völlig säkular.»

Zum Beispiel Mohammed und Razaq

Viele Häftlinge, darunter auch die wenigen, die seitdem freigelassen wurden, geben an, zum Zeitpunkt ihrer Festnahme keiner militärischen Aktivität nachgegangen zu sein. Mohammed arbeitete als Bäcker für die Taliban, Razaq war Bote. Die beiden wurden von der Nordallianz in Nordafghanistan festgehalten, von US-Sondereinheiten oder CIA-Angehörigen verhört, dann nach Kandahar geflogen, wo sie wochen- oder monatelang festgehalten und von wo sie schliesslich nach Guantanamo geschafft wurden. Razaq ist überzeugt, wie er mir in seinem ersten Gespräch mit einem Journalisten erklärte, dass er nur wegen seiner Englischkenntnisse nach Guantanamo gekommen sei. Im überfüllten Gefängnis Shebergan, wo ihn die Nordallianz gefangen gehalten habe, seien die pakistanischen, arabischen und usbekischen Häftlinge gefragt worden, wer von ihnen Englisch spreche. Razaq meldete sich. Man führte ihn mit gefesselten Händen in einen kleinen Raum, in dem zwei Amerikaner sassen.

Das Verhör dauerte drei, vier Minuten und bestand aus zwei Fragen: «Wie heisst du? Warum bist du nach Afghanistan gekommen?» Dann wurde er wieder hinausgeführt. Er konnte gerade noch eine Gruppe gefesselter Männer mit verbundenen Augen sehen, bevor ihm selbst die Augen verbunden wurden. Sie alle wurden zu einem Flugfeld gebracht und nach Kandahar geflogen. Zwischen seinen Vernehmern und den Soldaten, die ihm die Augen verbanden, sei kein Wort gefallen. Die Amerikaner hätten also schon beschlossen, ihn nach Kandahar zu bringen, weil er Englisch sprach – ganz gleich, was bei seinem Verhör herausgekommen sei. Ein zweiter entlassener Pakistaner, Mohammed Saghir, 53 Jahre alt, erklärt, dass er in Shebergan nicht einmal verhört wurde. Man habe ihn, gefesselt und mit verbundenen Augen, in einem Helikopter nach Kandahar geflogen. Shah Mohammed wurde in einem Gefängnis in Mazar-i-Scharif, unweit Shebergan, gefangen gehalten, bevor er nach Kandahar kam. Dort begegnete er einem Australier namens Hicks. Schon bald zeigte sich, dass die Gefangenen – offenbar je nach Nationalität und Hautfarbe – unterschiedlich behandelt wurden. «Ich habe mit dem Australier gesprochen, er konnte ein bisschen Urdu», sagt Mohammed. «Er sagte, er sei gekommen, um am Dschihad teilzunehmen. Die Amerikaner haben ihm viele Fragen gestellt, mehr als uns.

Er wurde auf ein Schiff gebracht, mich brachten sie nach Kandahar.» Mohammed sollte Hicks in Guantanamo wiedersehen. Die Freigelassenen berichten, wie brutal sie in Kandahar behandelt wurden. «Die Amerikaner sind extrem hart mit den Leuten umgegangen, die sie abtransportiert haben», sagt Razaq. «Mir haben sie die Hände so straff gefesselt, dass ich die rechte Hand zwei Monate lang nicht benutzen konnte. Sie haben uns aus dem Flugzeug rausgeworfen. Wir wussten lange nicht, dass wir in Kandahar waren. Wir dachten, sie würden uns dort töten.» «Sie haben uns einfach gepackt und aus dem Flugzeug rausgestossen», sagt Saghir. «Manche haben sich dabei verletzt, zum Teil schwer.» Die Unterbringung in Kandahar war sehr primitiv. Die Gefangenen schliefen in kleinen Gruppen auf der blanken Erde unter Zeltplanen, umgeben von Stacheldraht und ständig beobachtet. Jeder erhielt eine Decke. Es war Winter. Das Wasser, das sie in Plastikflaschen zu trinken bekamen, war morgens gefroren, sagt Razaq. In den ersten zwanzig Tagen waren Gespräche streng verboten. Niemand, sagt Saghir, durfte länger als eine Stunde schlafen. Die Gefangenen wurden regelmässig vernommen, mit langen Abständen zwischen den Verhören. Mohammed sagt: «Wir haben die Amerikaner gefragt: ‹Warum haltet ihr uns fest?› Sie antworteten: ‹Wir werden euch verhören, und wer sich als unschuldig erweist, kommt frei.› Niemand hat uns gesagt, dass sie uns nach Kuba bringen würden.»

Hungerstreiks und Zwangsernährung

Razaq hat Kandahar als einer der Letzten verlassen. Er sah, wie sich das Lager leerte. Seine Aussage legt die Vermutung nahe, dass die Amerikaner die nach Kandahar überstellten Gefangenen offenbar nur nach Guantanamo schicken konnten. «Ich weiss nicht, warum sie mich verdächtigt haben, aber Gerüchten zufolge hielten sie mich für einen hohen Vertreter des Taliban-Regimes», sagt Razaq. «Bei meinem letzten Verhör in Kandahar gab mir der amerikanische Vernehmer aber Wasser zu trinken und versicherte mir, dass ich freigelassen würde. Mehrmals wurde mir dies versprochen. Ich hatte keine Ahnung, wohin die Leute kamen, die aus dem Lager verschwanden. Wir haben das Rote Kreuz gefragt, aber die haben uns nichts gesagt. Ich war in der letzten Gruppe, die nach Kuba kam.» Vor dem Abtransport wurde den Gefangenen der Bart abrasiert. Das geschehe, erfuhr Razaq, weil die Gefangenen Läuse bekommen hätten. «Wir wehrten uns, aber vier, fünf Soldaten hielten uns fest, sie hatten ein Instrument dabei, mit dem sie uns einfach den Bart schoren», sagt Saghir.

Für den Flug bekamen die Gefangenen die orangefarbenen Overalls, die von Fernsehbildern ihrer Ankunft in Guantanamo bekannt sind. Sie wurden an Händen und Füssen gefesselt, man verband ihnen die Augen, knebelte sie und verstopfte ihnen sogar die Ohren. An Bord des Militärflugzeugs wurden die Füsse angekettet, die Hände auf den Lehnen festgebunden, sie selbst festgeschnallt. «Der Dolmetscher sagte: ‹Bleibt ruhig sitzen, seid unbesorgt, ihr kommt nach Hause.›», sagt Mohammed. «Irgendwann in der Nacht verliessen wir Kandahar, abends kamen wir in Kuba an. Irgendwo war ein Zwischenstopp, wo wir in ein anderes Flugzeug umstiegen.» Auf Kuba, sagt Saghir, wurden die Gefangenen, gefesselt und mit verbundenen Augen, aus dem Flugzeug geworfen. Manche brachen sich die Nase. «Ich hatte einen Bluterguss unter dem linken Auge, wo ich mit dem Gesicht aufgeprallt bin.» Die ersten Gefangenen wurden vom Rollfeld zu einem Lastwagen geschafft, von dort zu einem Boot, das sie auf die andere Seite der Bucht brachte, und dann ging es weiter in das Camp X-Ray, in die kahlen Drahtkäfige, die in den ersten Monaten des Jahres 2002 ihre Unterkunft waren. Die ersten Fotos von gefesselten, geknebelten Menschen in leuchtend orangefarbenen Overalls wurden eine mächtige Waffe in den Händen all jener, die den amerikanischen Krieg gegen den Terrorismus ablehnten.

Ein Staat, der nichts von einem internationalen Strafgerichtshof wissen wollte, errichtete hier ein brutales internationales Gefängnis – das schienen die Fotos auszudrücken. Die bizarre Lage von Guantanamo selbst, dieser befestigte amerikanische Brückenkopf auf einem der letzten Vorposten des Kommunismus, verstärkte den Eindruck, dass die Gefangenen an einem völlig isolierten Ort gelandet waren. In den ersten Wochen von Camp X-Ray ging es noch härter zu, als es die Fotos von den engen Käfigen nahe legten. Die Gefangenen durften nicht miteinander sprechen, nicht einmal flüstern. «Den ersten Monat habe ich in völligem Schweigen verbracht», sagt Mohammed. In der Anfangsphase wurde auf die islamischen Gebetsvorschriften keine Rücksicht genommen. «In den ersten sechs Wochen durften wir mit niemandem sprechen und auch nicht beten», sagt Saghir. «Für die Mahlzeiten hatten wir nur zehn Minuten. Als ich einmal beten wollte, kamen vier, fünf Mann und schlugen mich. Nach sechs Wochen machten wir Hungerstreik.»

US-Offizielle in Guantanamo räumen ein, dass es tatsächlich zu Hungerstreiks kam und manche Häftlinge zwangsernährt wurden – doch aus Sicht der Häftlinge waren es erfolgreiche Proteste. Laut Saghir wurde das absolute Redeverbot erst nach einem massiven viertägigen Hungerstreik aufgehoben, ein Lautsprecher wurde angebracht, mit dem zum Gebet gerufen wurde, für die Mahlzeiten wurde mehr Zeit gelassen. Und es wurden Exemplare des Korans und andere Bücher verteilt.

Keine Informationsmöglichkeiten

Mohammed berichtet von einem achttägigen Hungerstreik, der stattfand, nachdem ein Wärter einen Koran auf die Erde geworfen hatte. Am Ende entschuldigte sich ein Vorgesetzter und versprach, dass derlei nicht wieder passieren werde. Für Razaq gehörten Proteste zum Lageralltag. «Anfangs gab es einen Massenhungerstreik, später waren es nur Einzelne, die das Essen verweigerten.» Manchmal rissen die Insassen ihre Plastikschilder mit der Häftlingsnummer ab und warfen sie den Wärtern vor die Füsse oder schlugen auf die Bänke. Manchmal reagierten die Wärter mit dem Einsatz von Tränengas. Das Leben in X-Ray wurde leichter, nachdem das Sprechverbot aufgehoben war. Die Insassen sollten also miteinander reden können, aber sie wurden so verteilt, dass nicht allzu viele eine Gruppe bildeten, die eine Sprache sprachen. Mohammeds unmittelbare Nachbarn waren Hicks, ein Bangladescher, zwei Araber, an deren Namen er sich nicht mehr erinnert, sowie Rokhanay, ein Nordafghane. Etwas weiter entfernt waren Asif Iqbal aus England, der Araber Abu Nakar sowie zwei Südafghanen, Wasiq und Nurullah. «Asif hatte einen Vorteil, weil er mit den Amerikanern Englisch sprechen konnte.

Er war sozusagen mein Dolmetscher. Er war auf Besuch nach Pakistan gekommen und nach Afghanistan weitergereist, wollte sich aber dort nicht an Kämpfen beteiligen. Er hat die Wärter von Zeit zu Zeit beschimpft. Aber die Amerikaner haben nicht reagiert. David Hicks konnte etwas Urdu, also habe ich mit ihm gesprochen, und er hat es an Asif weitergegeben.» In Guantanamo gibt es keine Informationsmöglichkeiten. Die Häftlinge wissen nicht, was draussen in der Welt passiert. Kontakt haben sie, abgesehen von den Wärtern und Vernehmern, nur mit Vertretern des Internationalen Roten Kreuzes und gelegentlichen Besuchern von Geheimdiensten und diplomatischen Vertretern ihrer jeweiligen Länder. Das IKRK äussert sich nicht über die Verhältnisse in Guantanamo, und überhaupt ist kaum etwas über das Lagerleben nach draussen gedrungen. Schwedische Aktivisten, die sich für die Entlassung eines Häftlings eingesetzt haben, konnten sich dank der schwedischen Informationsrechte Zugang zu der zensierten Version des Berichts des Geheimdienstoffiziers Bo Eriksson verschaffen, der Guantanamo im Februar 2002 gemeinsam mit einem anderen Schweden besucht hatte. Aus diesem und anderen Dokumenten geht hervor, dass bei den Gesprächen zwischen den Schweden und dem Häftling ein eigens herbeibeorderter schwedischsprachiger US-Offizier anwesend war.

Und trotzdem verlangten die Amerikaner eine Kopie von Erikssons Bericht. Eriksson schrieb: «Die Zellen sind ca. 2 · 3 Meter gross, die Wände sind aus Maschendraht, der Boden ist aus Beton, die Decke aus Metall. Im Innern haben die Häftlinge eine Matratze, eine Decke, ein Handtuch, zwei Eimer und Wasserflaschen aus Plastik. Ausserhalb ihrer Zellen tragen die Häftlinge orangefarbene Overalls und Plastiksandalen. Innerhalb der Zellen können sie sich frei bewegen, aber ausserhalb tragen sie Hand- und Fussschellen. Die Handschellen sind am Gürtel befestigt, so dass sie Hände und Arme nur eingeschränkt bewegen können. Mit seinen Handschellen konnte der Häftling nur sehr mühsam Wasser aus einem Becher trinken. Die Fussfesseln lassen nur ganz kleine Schritte zu. Ein Wärter legt dem Gefangenen eine Hand auf den Nacken, drückt den Kopf herunter, so dass der Betreffende die ganze Zeit zu Boden schaut. Die Gefangenen werden nicht gefoltert oder anderweitig entwürdigend behandelt. In den Maschendrahtzellen sind sie keinen Moment unbeobachtet. Einmal hatten Insassen eine Plastikverkleidung an den Draht gehängt, um sich vor Blicken zu schützen, doch sie mussten sie wieder entfernen, weil es trotz des kühlen Meereswinds unerträglich heiss wurde.»

«Richtige» Antworten werden belohnt

Im April 2002 wurde Camp X-Ray geschlossen. Die Häftlinge wurden nach Camp Delta verlegt. Ihre Bärte wuchsen wieder. Die neue Unterkunft, bis heute der Hauptteil des Lagers, besteht aus Blöcken zu je 48 Käfigen, zwischen denen ein schmaler Gang verläuft. Die Blöcke haben keine Aussenwände, nur ein schräges Dach; sie stehen auf Betonplatten, und das ganze Areal ist umgeben von hohen, undurchsichtigen grünen, stacheldrahtbewehrten Zäunen. Die Käfige sind so lang und breit wie ein ausgewachsener Mann, sie sind ausgestattet mit einer Metallpritsche, einem Wasserhahn und einer Toilette. Neben diesem Standardtyp gibt es noch mindestens sechs andere Käfigarten. In Camp Four, wo gefügige, kooperationswillige Häftlinge untergebracht sind, geht es etwas lockerer zu. Die Häftlinge können sich in den schlafsaalähnlichen Unterkünften frei bewegen. Innerhalb von Camp Four gibt es eine weitere Kategorie von Gefangenen, die zur Vorbereitung auf ihren bevorstehenden Prozess von den anderen isoliert werden.

In Camp Delta gibt es eine besondere Abteilung für drei jugendliche Häftlinge, deren Haftbedingungen weniger hart sind. Ausserdem gibt es Block Delta, wo psychisch auffällige Häftlinge unter besonderer Beobachtung stehen, sowie den India Block und vielleicht noch einen weiteren Block mit Einzelhaft-Strafzellen. Einige wenige Gefangene, vermutlich zwischen zwei und fünf, werden in einem Hochsicherheitstrakt in Camp Delta in ständiger Isolationshaft gehalten. Mohammed, Saghir und Razaq haben allesamt Bekanntschaft mit den Strafzellen gemacht. Saghir sagt, er habe mehr als eine Woche in einem der fensterlosen Metallkästen zugebracht, nachdem ein Araber einen der Wächter angespuckt hatte und die gesamte Reihe von 24 Käfigen mit Einzelhaft bestraft wurde. Dass die Häftlinge so lange in Isolation gehalten werden, wird offiziell unter anderem damit begründet, dass sie als wichtige Informationsquellen verhört werden müssen.

Es haben ausserordentlich viele Verhöre stattgefunden: Jeder Gefangene wird üblicherweise zwischen zehn- und zwanzigmal verhört, das entspricht, bei einer durchschnittlichen Verhördauer von neunzig Minuten, etwa 15000 Stunden Verhörprotokollen, vielleicht 200 Millionen Wörtern oder dem Umfang von 250 Bibeln. Die Häftlinge sagen aber ausnahmslos, dass sie jedesmal von einer anderen Person verhört und ihnen jedesmal dieselben Fragen gestellt wurden. Das Vernehmungszimmer beschreiben die Häftlinge als ein kleines fensterloses Zimmer mit Klimaanlage und Neonlicht an der Decke. Ein, zwei oder drei Amerikaner stellen Fragen, nötigenfalls über einen Dolmetscher. An Mobiliar gibt es nur einen Holztisch mit Metallbeinen und Metallstühle. Die Verhöre werden auf Band aufgenommen und protokolliert. Auf dem Boden gibt es einen Metallring, an dem die Häftlinge fixiert werden.

Saghir sagt: «Sie fragen beispielsweise: ‹Wo ist Osama? Kennst du einen Anführer von al-Qaida? Bist du ihnen persönlich begegnet?› Meine Antworten haben sie nicht kommentiert. Und wenn ich sie fragte, antworteten sie: ‹Wir wissen nicht, wann du freikommst. Das wissen nur unsere Chefs, wir tun hier nur unsere Arbeit.›» Manchmal hatte es den Anschein, als sollten die Häftlinge Mitgefühl mit den Opfern des 11. September erkennen lassen. Saghir erfuhr einmal von einem Dolmetscher, dass er mit einer «richtigen» Antwort seiner Entlassung näher gekommen sei. «In meinem letzten Verhör wurde ich gefragt: ‹Würdest du die Leute, die die Zwillingstürme angegriffen haben, als Muslime bezeichnen?› Ich antwortete: ‹Nein, aber ich bin kein Religionsgelehrter. Ich kann diese Leute nicht beurteilen.› Daraufhin sagte der Dolmetscher: ‹Du bist einen Schritt weiter. Für dich gibt es keine Verhöre mehr.›» Nach Aussage der entlassenen Häftlinge hat es nach Kandahar keine Folter gegeben, nicht einmal aggressives Verhalten seitens der Vernehmer, doch Razaq sagt, dass Häftlinge, die auf bestimmte Fragen keine Antworten gaben, zur Strafe in Einzelhaft gesteckt wurden. Manche Verhöre scheinen eher mentalen Spielchen zu gleichen. Einmal wurde Razaq faktisch erklärt, dass er frei sei. «Also, deine Akte ist okay. Wohin sollen wir dich bringen?» Razaq antwortete hoffnungsvoll: «Peschawar?» Sofort wurde er weiter verhört, sogar einem Lügendetektortest unterzogen. «Vielleicht gehört das zu ihren Methoden», sagt Razaq. «Zuerst bringen sie mich dazu, mich zu freuen, und dann geht alles wieder von vorn los.»

Die Gefängnisindustrie

Guantanamo ist ein trostloser, bedrückender Ort. Aber für Europäer, die die Sicherheitsmassnahmen, die Ketten und die demütigenden Käfige, irritierend finden, ist vielleicht nicht auf den ersten Blick klar, dass es nicht viel anders zugeht als in einem rauen US-Gefängnis. Wenn man sich nur auf die äusseren Bedingungen konzentriert, besteht die Gefahr, dass man die Besonderheit von Guantanamo aus den Augen verliert: Dort werden auf Anordnung von Präsident Bush in für westliche Verhältnisse beispiellos willkürlicher Weise Hunderte von Personen gefangen gehalten, die weder wissen, wie lange ihre Haft dauert, noch ihren Fall vor einem Gericht darlegen können. Ebendies finden Juristen in Amerika und Europa so besorgniserregend.

Es sind vor allem diese Verhältnisse, unter denen die Gefangenen und ihre Angehörigen am meisten leiden. Und die eigenartigen Gebilde, die das Pentagon zur Aburteilung einiger Häftlinge eingerichtet hat, die Militärkommissionen, bereiten offenbar selbst den Militärverteidigern Kopfzerbrechen. «Die amerikanischen Gefängnisse sind eine grosse Industrie», sagt Daryl Matthews. «Wir stecken viele Leute hinter Gitter. Kaum jemand weiss, wie viele Gefängnisse es gibt und welch schlimme Verhältnisse dort herrschen. Leuten, die als besonders gefährlich gelten, werden Ketten angelegt. Ich war in US-Gefängnissen, die sehr viel sicherer sind als Guantanamo. Ich habe auf dem Festland mit maskierten und gefesselten Leuten gesprochen. Diese Gefängnisse sind schreckliche Orte. Ich glaube nicht, dass es den Insassen von Guantanamo in erster Linie um die Haftbedingungen geht. Aber es geht um Menschenrechte.» Matthews, ein Gegner der Todesstrafe, tritt bei Strafprozessen als psychiatrischer Berater auf. Er weiss nicht, ob er es mit seinem Gewissen vereinbaren könnte, seine Dienste auch den Militärkommissionen anzubieten, die über die Guantanamo-Häftlinge urteilen sollen.

Die Kommissionen können die strengsten Urteile sprechen, einschliesslich Todesstrafe. Anders als Vergewaltiger, Kindesentführer und Serienmörder, anders als Timothy McVeigh, der Oklahoma-Bomber, anders als Sowjetspione während des Kalten Krieges oder Nazi-Kriegsverbrecher, selbst anders als der Schuhbomber Richard Reid, der sich als Al-Qaida-Anhänger zu erkennen gab, wissen die Hunderte von Häftlingen in Guantanamo nicht, weshalb sie seit zwei Jahren festgehalten und wann sie, wenn überhaupt, freigelassen werden, ob man ihnen den Prozess machen wird oder ob sie jemals die Chance haben, ihren Status vor einem ordentlichen Gericht anzufechten. Matthews weist darauf hin, dass diese Isolation und Ungewissheit eine ungeheure Last für die Häftlinge ist. «Belastungen gibt es auch in jedem Hochsicherheitsgefängnis in den USA. Die Insassen langweilen sich, sie haben keine Privatsphäre. Sie können sich etwas bewegen, aber nicht sehr viel.

Sie sind mit Fremden konfrontiert, die ihnen nicht wohlgesinnt sind, mit Wärtern und anderen Insassen. Sie haben keinen Zugang zu persönlichen Dingen. Das Häftlingsdasein ist furchtbar... Wenn ich von den britischen Gefangenen lese, deren Angehörige sich Sorgen machen, dass Häftlinge gefoltert werden, weil sie Depressionen haben, dann würde ich diesen Angehörigen gern sagen, dass man im Gefängnis auch ohne Folter Depressionen bekommt. Schon eine normale Gefängnisumgebung führt zu tief greifenden seelischen Veränderungen, zu Depression und gar zu Selbstmord. In Guantanamo gibt es aber noch eine zusätzliche, ganz besondere Belastung: Gefangene in normalen Haftanstalten denken daran, wie lange sie noch absitzen müssen, sie denken an das nächste Gespräch mit ihrem Anwalt, was sie tun können, um bald herauszukommen. Das sind wichtige Möglichkeiten, mit dem Haftstress fertig zu werden. Die Leute in Guantanamo können da überhaupt nichts machen.»

Uniform als Killer-Kriterium

Nach den Anschlägen vom 11. September zeigte sich, dass Bush und Justizminister Ashcroft dazu neigten, das Böse mit gnadenloser Justiz zu bekämpfen. Sie forderten die Richter auf, möglichst strenge Urteile zu sprechen, und sahen in Anwälten Hindernisse. Die «Krieg gegen den Terror»-Rhetorik passte zu dem rechten Politikverständnis, wonach rückgratlose Liberale, die für die Rechte von Angeklagten eintreten, die Opfer von Gewaltverbrechen verraten. Ashcroft machte die Parallele deutlich, als er darauf hinwies, dass die Regierung im Kampf gegen den Terrorismus genauso vorgehe wie bei der Verbrechensbekämpfung. «Fast zwei Jahrzehnte predigten einige Leute in Washington Defätismus und Kapitulation im Kampf gegen Drogenschmuggler, Kriminelle und Gesetzesbrecher. Sie glaubten, dass mit Strafverfolgung nichts auszurichten sei.

Sie glaubten, wir seien dazu verurteilt, mit der zunehmenden Kriminalität zu leben. Sie argumentierten, dass Straftaten das Ergebnis von Umständen und Verhältnissen seien, auf die wir keinen Einfluss hätten... Wir haben die ideologischen Kritiker widerlegt. Wir haben bewiesen, dass die richtigen Ideen – strenge Gesetze, strenge Urteile und ständige Kooperation – stärker sind als der Straftäter oder die Terroristenzelle.» Ein Vorgeschmack dessen, wie die Regierung Bush «Defätismus und Kapitulation» bei der Verfolgung von Terroristen zu vermeiden gedachte, war die Verhaftung von mehr als eintausend ausländischen Muslimen unmittelbar nach dem 11. September. Technisch gesehen wurden sie wegen ungültiger Visa und Verstosses gegen andere Einwanderungsvorschriften festgehalten, doch gegen 762 Personen wurde wegen vermuteter Kontakte zu terroristischen Zellen ermittelt. Nur wenige, wenn überhaupt, wurden offiziell beschuldigt, aber alle kamen erst nach Wochen oder Monaten wieder frei.

Wer in Brooklyn festgehalten wurde, durfte anfänglich nicht einmal Kontakt zu Anwälten oder Familienangehörigen aufnehmen, und manche berichteten von brutalen und rassistischen Übergriffen. Die Anordnung des Präsidenten, die die Grundlage für die Errichtung des Camps in Guantanamo war und derzufolge alle Personen, die wegen terroristischer Aktivitäten oder Kriegsverbrechen inhaftiert waren, von Militärkommissionen abzuurteilen seien, wurde am 13. November 2001 erlassen, dem Tag, als die Nordallianz Kabul eroberte. Nach dem unerwarteten Fall von Masar-i-Scharif wenige Tage zuvor war der Regierung schlagartig klar geworden, dass man auf Hunderte, vielleicht Tausende von Talibankämpfern Zugriff haben würde, unter denen sich Terroristen befinden könnten. Plötzlich stellte sich die Frage, welchen Status man diesen Gefangenen geben sollte, um sie verhören, beliebig lange festhalten und verurteilen zu können. Washington hätte seine Ziele durchaus unter Beachtung des Völkerrechts verfolgen können. Stattdessen schuf es sein eigenes Recht. Der erste Schritt, mit dem man sich von den internationalen Normen entfernte, war die Weigerung, die afghanischen Gefangenen als Kriegsgefangene zu betrachten.

Ein Informant erzählte mir eine Geschichte, wonach Präsident Bush und seine Berater beim Studium der Genfer Konvention auf den Punkt stiessen, dass Kriegsgefangenen täglich ein Betrag zwischen 8 und 75 Franken zustehe. Da soll Bush die Beherrschung verloren und seinen Mitarbeitern aufgetragen haben, einen Weg zu finden, der die Möglichkeit bietet, diese Gefangenen nicht als Kriegsgefangene einzustufen. Offiziell versteckt man sich hinter der Tatsache, dass die afghanischen Widerstandskämpfer keine Uniform trugen. Es stimmt, die Taliban und die nichtafghanischen Kämpfer trugen keine Uniform, doch das bedeutet nicht, dass sie keine Kriegsgefangenen sind. In Artikel 5 der Dritten Genfer Konvention heisst es eindeutig: Jeder gefangen genommene Kämpfer, dessen Status ungeklärt ist, soll so lange als Kriegsgefangener betrachtet werden, bis über seinen Status von einem «kompetenten Tribunal» entschieden wurde. Während des Golfkriegs von 1991 und im Irak-Krieg haben die USA Hunderte solcher Tribunale abgehalten. Aber nicht in Afghanistan. Warum? Major John Smith, Militärstaatsanwalt jener Abteilung im Pentagon, die die bevorstehenden Prozesse gegen die Guantanamo-Häftlinge vorbereitet, erklärt, dass dies nicht erforderlich gewesen sei: «Für den Präsidenten stand ausser Zweifel, dass diese Personen nicht als Kriegsgefangene anzusehen und Tribunale daher nicht notwendig sind.»

Feindliche Kombattanten» überall

Eugene Fidell, ein ehemaliger Militärverteidiger, heute Präsident des National Institute of Military Justice, ist der Ansicht, dass die Entscheidung, keine Tribunale abzuhalten, den hohen moralischen Anspruch Amerikas geschwächt habe. «Ob die Entscheidung des Präsidenten in Bezug auf Al-Qaida- oder Taliban-Angehörige richtig oder falsch oder sagen wir teilweise falsch war, sie stellte einen Scheideweg dar. Und der Weg, der dann beschritten wurde, hat unserem Ansehen in der Welt erheblich geschadet.» Selbst mit offiziellen Tribunalen hätten die Kriegsgefangenen verhört und vor Gericht gestellt werden können. Man hätte auch einige der kümmerlichen Figuren aussondern und ihnen Guantanamo ersparen können, wie etwa Mohammed Hagi Fiz, einem zahnlosen, gebrechlichen Afghanen in den Siebzigern, der im Oktober 2002 freigelassen wurde, oder Abdul Razeq, einem an Schizophrenie leidenden Afghanen, der im Mai 2002 mit Medikamenten für ein halbes Jahr entlassen wurde.

Der amerikanische Standpunkt ist insofern merkwürdig, als die Guantanamo-Häftlinge zwar nicht im Sinne der Genfer Konvention, aber doch in bestimmter Hinsicht als Kriegsgefangene betrachtet werden – sie können bis Kriegsende festgehalten werden. Washington bezeichnet sie als «feindliche Kombattanten» – ein Terminus, der im Völkerrecht nicht anerkannt wird. Auf die Frage «Welcher Krieg?» antwortet die US-Regierung: Der Krieg gegen den Terror. Mit anderen Worten, die Gefangenen können so lange festgehalten werden, wie es Präsident Bush gefällt. Im Grunde auf unbestimmte Zeit, denn dieser Krieg, anders als normale Kriege, in denen es um ein Territorium und einen konkreten militärischen Gegner geht, existiert nur als Begriff. Den «Krieg» gab es ja schon vor dem 11. September (in fast jedem Jahr der letzten Dekaden waren US-Bürger oder US-Einrichtungen Ziel terroristischer Anschläge geworden). Und dass ein amerikanischer Politiker das Risiko eingeht und den «Krieg gegen den Terror» für beendet erklärt, ist kaum vorstellbar. «Jemanden als feindlichen Kombattanten festzuhalten, ist nicht verboten, man nimmt ihn aus dem Schlachtfeld heraus», sagt Militärstaatsanwalt Major Smith. «Wir führen Krieg gegen al-Qaida. Das ist ein realer Krieg, kein Krieg im übertragenen Sinn. Ich bin überzeugt, wir werden al-Qaida besiegen können. Es ist eine politische Situation und eine schwerwiegende Entscheidung, aber ich glaube, irgendwann werden wir sagen können, dass al-Qaida keine Bedrohung mehr für uns darstellt. Irgendwann werden al-Qaida und der Terrorismus besiegt sein.» Der Status «feindlicher Kombattant» und die Nichtanwendung der Genfer Konvention besagen jedoch, dass die Häftlinge von Guantanamo bis zum Ende eines potenziell endlosen Kriegs festgehalten werden, ohne die Chance, vor einem Gericht beweisen zu können, dass sie mit diesem Krieg nichts zu tun hatten.

Da sich die USA nicht verpflichtet sehen, sie vor ein Gericht zu bringen, müssen sie ihnen auch keine Anwälte zur Verfügung stellen. Und selbst wenn jemand bei einem Verfahren freigesprochen würde, könnte man ihn einfach erneut festsetzen. «Unsere Regierung misst mit zweierlei Mass», sagt Anwalt James Harrington, der einen US-Bürger vertritt, der (nicht in Guantanamo) auf seine Verurteilung wegen Terrorismus wartet. «Wir sagen, es sind keine Kriegsgefangenen, und sie werden auch nicht als solche behandelt, und gleichzeitig sagen wir, wir führen Krieg. Wir müssen uns für eines entscheiden. Wenn wir verkünden, dass wir das beste Rechtssystem der Welt haben, sollten wir diese Leute nicht so unfair behandeln. Diese Burschen werden irgendwo aufgegriffen, in ein anderes Land verfrachtet, festgehalten, aber nicht in den USA, so dass sie nicht dieselben Rechte wie in den USA haben, und werden nach Bestimmungen behandelt, die die Regierung zu ihrem eigenen Nutzen erlassen hat.» Die Art und Weise, wie die US-Regierung mit dem Begriff «feindlicher Kombattant» umgeht, erfüllt Anwälte und Menschenrechtsaktivisten mit grosser Sorge. Inzwischen, so scheint es, kann jeder, ob US-Bürger oder nicht, jederzeit zum «feindlichen Kombattanten» erklärt und damit auf unbestimmte Zeit festgehalten werden. Dieser Status schleicht sich sogar auf dem Festland ein.

Allmächtiger Wolfowitz

Mittlerweile sitzen schon drei «feindliche Kombattanten» in US-Militärgefängnissen. Einer ist Ali Saleh Kahlah al-Marri, ein katarischer Student in Illinois, der wegen einfacher Straftaten (mit nur indirektem terroristischem Hintergrund) festgenommen worden war. Als sich zeigte, dass der Staatsanwalt Mühe mit der Anklage hatte, wurde al-Marri zum «feindlichen Kombattanten» erklärt und sofort in ein Hochsicherheitsgefängnis verlegt. Nun konnte der Prozess ausgesetzt und der Angeklagte für unbestimmte Zeit festgehalten werden. Laut Präsident Bushs Verfügung vom 13. November 2001 sollen alle «feindlichen Kombattanten» human behandelt werden, Rasse, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, Geburt, Reichtum oder ähnliche Kriterien sollen keine Rolle spielen. Dieses Bekenntnis lässt sich aber kaum mit der höchst unterschiedlichen Behandlung von drei Personen vereinbaren, die als angebliche Talibankämpfer verhaftet wurden. Der einzige weisse Amerikaner in dieser Kategorie, John Walker Lindh, wurde vor ein ordentliches Gericht gestellt und verurteilt.

Ein zweiter Amerikaner, allerdings von saudischer Herkunft, Yasser Hamdi, wurde von Guantanamo in ein Marinegefängnis in den USA verlegt und wird dort noch immer als «feindlicher Kombattant» isoliert festgehalten. Mohammed Tariq, ein Pakistaner aus Shah Mohammeds Dorf, ist noch immer in Guantanamo. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, er könnte etwas getan haben, was Lindh oder Hamdi nicht getan haben. Die Spekulationen über eine bevorstehende Entlassung europäischer Häftlinge, so willkommen sie auch ist, unterstreichen nur die willkürliche Behandlung der Häftlinge. Nichts zeigt den neuen Umgang der US-Behörden mit Verdächtigen und die unfaire Behandlung der Guantanamo-Häftlinge besser als der Fall der «Lackawannna Six» – einer Gruppe von jemenitischen Amerikanern aus Buffalo, die der Unterstützung von al-Qaida beschuldigt wurden. Am Ende plädierten alle auf «schuldig» – aber erst, nachdem die Staatsanwaltschaft darauf hingewiesen hatte, dass man die Angeklagten andernfalls als «feindliche Kombattanten» bezeichnen werde. «Natürlich hat uns das nicht kalt gelassen», sagt Harrington, der Verteidiger eines der Angeklagten. «Ich finde dieses Vorgehen zweifelhaft.»

Für die Angeklagten änderte sich letztlich nichts. Ihr Fall wurde weiterhin von einem Zivilgericht an ihrem Wohnsitz verhandelt, und sie hatten weiterhin ihre Anwälte. Die Häftlinge von Guantanamo haben diese Rechte nicht. Sie kommen vor Militärkommissionen und werden nach einem System abgeurteilt, das weltweit auf Ablehnung stösst, von amerikanischen Juristen abgelehnt wird und sogar von einigen der Militäranwälte, die in diesen Kommissionen mitwirken, mit Missfallen betrachtet wird. Um Vorbilder für die Kommissionen zu finden, musste die US-Regierung sechs Jahrzehnte zurückgehen, in eine Zeit, als die Genfer Konvention noch nicht existierte, und zwei Nazi-Agenten-Fälle ausgraben. Mindestens zwei andere Optionen hätten sich angeboten – die zivilen Gerichte, vor denen in der Vergangenheit Terroristenfälle (der Anschlag auf das World Trade Center 1993) verhandelt wurden, und Kriegsgerichte, vor denen sich beispielsweise der abgesetzte panamaische Diktator Noriega verantworten musste. Warum Militärkommissionen? Die Regierung Bush rechtfertigt ihre Entscheidung damit, dass den Guantanamo-Häftlingen wegen vermuteter «Kriegsverbrechen» der Prozess gemacht werden soll und dass die Kommissionen die Gewähr dafür bieten, dass geheime Informationen nicht an die Öffentlichkeit dringen. Kritiker bezeichnen beide Argumente als nicht stichhaltig und sagen, dass die Militärkommissionen in Wahrheit deswegen eingesetzt werden, weil sie die Möglichkeit bieten, kurzen Prozess zu machen.

Kritisiert wird vor allem, dass der Staat die Gespräche zwischen Verteidiger und Mandant überwachen lässt und dass die Angeklagten nach einer Verurteilung durch eine Militärkommission keine Möglichkeit haben, vor einem unabhängigen Gericht Berufung einzulegen. Aber es gibt noch weitere Aspekte, die sich geradezu kafkaesk ausnehmen. Das Erste, was einem Beobachter der Militärkommissionen auffällt, ist die enorme Macht des stellvertretenden US-Verteidigungsministers. Paul Wolfowitz ernennt die Mitglieder der Kommissionen. Er kann jeden Richter – noch im letzten Moment – durch einen anderen ersetzen. Er ernennt die Militärstaatsanwälte. Er bestimmt, wer vor diesen Kommissionen erscheint und welche Anklage erhoben wird. Jeder Angeklagte erhält einen Verteidiger – aus einem Pool, der von Wolfowitz nominiert wird. Jeder Angeklagte darf einen Zivilverteidiger hinzuziehen, den er aber aus eigener Tasche bezahlen muss, und er muss angeben, wo dieses Geld ist, und riskiert, dass es – auf Anweisung von Wolfowitz – wegen des Verdachts der Verwendung für terroristische Zwecke beschlagnahmt wird. Verurteilte Angeklagte müssen aber nicht alle Hoffnung aufgeben. Sie können sich an einen Ausschuss wenden, dessen drei Mitglieder von Wolfowitz ernannt werden.

Die Empfehlung dieses Ausschusses wird zur endgültigen Entscheidung an Wolfowitz überwiesen. «So funktioniert das System», sagt der Anwalt Clive Stafford-Smith, der einige der britischen Guantanamo-Häftlinge vertritt. «Es ist eine vielköpfige Hydra, und jeder Kopf trägt das Gesicht von Paul Wolfowitz.» Angesichts der Hindernisse, die zivilen Anwälten in den Weg gelegt werden – der Betreffende muss US-Bürger sein, sich auf eigene Kosten überprüfen lassen, er muss seine Kanzlei aufgeben und für lange Zeit nach Guantanamo umziehen –, dürften es fast nur gewissenhafte Militärverteidiger sein, die vielen der Inhaftierten die Hoffnung auf einen fairen Prozess bieten. Unter den wenigen erfahrenen Militärverteidigern, die dem Pentagon zur Verfügung stehen, herrscht offenbar grosser Unmut. Sie empören sich über die Einschränkungen, die ihnen auferlegt werden, und verstehen nicht, warum die Regierung auf Präzedenzfälle in den vierziger Jahren zurückgegriffen hat und sechs Jahrzehnte Entwicklung der US-Militärgerichtsbarkeit ignoriert. Sechs Militärverteidiger arbeiten für das Office of Military Commissions im Pentagon.

Namentlich bekannt ist nur der Chefverteidiger, Colonel Willie Gunn. Nach Erkenntnissen der britischen Tageszeitung Guardian sind die übrigen fünf nicht die ursprünglich berufenen Anwälte. Diese wurden entlassen, nachdem sie sich geweigert hatten, die Einschränkungen ihrer Tätigkeit hinzunehmen. «Im Frühjahr 2003 wurden Militärverteidiger gesucht», sagt einer der ursprünglichen Kandidaten. «Es gab ein Auswahlverfahren, und es wurden die richtigen Leute ausgewählt. Alles tüchtige, fähige Anwälte. Schon am ersten Tag erklärten mindestens zwei, dass sie mit diesen Einschränkungen ihre Mandanten nicht vernünftig verteidigen können. Auch die übrigen beschlossen dann, dass sie nicht mitmachen würden. Am nächsten Tag wurden sie gefeuert.» Das Office of Military Commissions bestreitet dies. «Derlei ist nie passiert», sagt Major Smith. «Die Militärkommission ist ein Instrument der Justiz.» Doch nach Erkenntnissen des Guardian scheint in der Kommission grosse Unzufriedenheit zu herrschen – eine beunruhigende Situation, da hier möglicherweise die Todesstrafe verhängt wird. Eugene Fidell sagt, dass die Militärjuristen – in der US-Armee gibt es etwa fünftausend aktive Pflichtverteidiger – empört sind über Alberto Gonzalez, einen Berater des Weissen Hauses, der in einem Zeitungskommentar erklärte, dass Militärjustiz und Militärkommissionen ein und dasselbe sind.

Und Anwalt Clive Stafford-Smith: «Ein Militärstaatsanwalt sagte mir, dass vermutlich dreissig Prozent der Leute in Guantanamo keinen Dreck am Stecken haben. Sie waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Wenn der Staatsanwalt dreissig Prozent sagt, glaube ich eher an siebzig Prozent. Aber letzten Endes geht es nicht um 600 der übelsten Schurken auf der Welt, sondern um mindestens einige hundert, die überhaupt nichts getan haben. Man kidnappt Menschen, die vielleicht völlig unschuldig sind, schafft sie ans andere Ende der Welt, hält sie zwei Jahre gefangen, sagt ihnen nicht, was man ihnen vorwirft, und gibt ihnen keinen Anwalt. Die Frage ist nicht, was an diesem Verfahren falsch ist, sondern, was daran richtig ist.»



[  Aus dem Englischen von Matthias Fienbork The Guardian



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