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Willkommen in Guantanamo
Verhaftet, verfrachtet und als «feindliche Kombattanten» auf unbestimmte
Zeit eingesperrt: Der britische Journalist James Meek sprach mit ehemaligen
Insassen des umstrittenen Gefangenenlagers und gibt Einblick ins kafkaeske
Justizsystem des Pentagons. «In den Maschendrahtzellen sind die Gefangenen
keinen Moment unbeobachtet»: das inzwischen geschlossene Camp X-Ray. Ein
Sommertag 2002 im Gefangenenlager Guantanamo. Der 31-jährige Pakistaner
Abdul Razaq, von Beruf Englischlehrer, bemerkt etwas Ungewöhnliches in einem
der benachbarten Drahtkäfige. Ein pakistanischer Mithäftling, Shah Mohammed,
versucht, sich mit einem Stück Stoff am Zaun aufzuhängen. Andere Häftlinge
sehen das, schlagen Alarm. «Erst riefen wir ihm zu, er solle aufhören», sagt
Razaq, der im Juli aus der Haft in Guantanamo entlassen wurde und nach
weiteren drei Monaten Haft in Pakistan im Oktober nach Hause zurückkehrte.
«Die Wärter kamen herbei und retteten ihn. Er schien bewusstlos.» Das war
der erste von vier Selbstmordversuchen, die Shah Mohammed in Guantanamo
verübte. Der 23-Jährige wurde im Mai entlassen und lebt jetzt in der Nähe
von Peschawar. Seit seiner Heimkehr plagen ihn Alpträume. Zehnmal wurde er
in Kandahar und Guantanamo verhört. «Meine körperliche und seelische
Verfassung ist schlecht. Ich habe mich sehr verändert», sagt er. «Ich lache
nicht mehr, habe keine Freude mehr am Leben.»
40 Nationalitäten, 18 Sprachen
Auf die Frage, warum er so oft versucht habe, sich das Leben zu nehmen,
antwortet er ausweichend. Er habe sich Sorgen gemacht, um die Familie, die
Gesundheit der Mutter, das Geschäft des Bruders und um seine «eigenen
Probleme». Die Suizidversuche in Guantanamo begannen jedoch, nachdem man
ihn, ohne Erklärung, für einen Monat in eine Isolationszelle gesteckt hatte
– aber nicht weil er gegen irgendwelche Vorschriften verstossen hatte,
sondern weil die Amerikaner keine andere Unterbringungsmöglichkeit hatten.
Im «India Block», wie die Strafabteilung genannt wird, «gab es keine
Fenster. Vier Wände und ein Dach aus Blech, eine Glühbirne und Klimaanlage.
Die Klimaanlage wurde angestellt, es war unwahrscheinlich kalt. Morgens
wurde die Glühbirne herausgeschraubt und abends wieder eingeschraubt. Einen
Monat verbrachte ich in dieser Zelle. Auf die Frage, ob das eine Strafe sei,
antwortete der Dolmetscher: ‹Nein, das hat der General angeordnet.›»
Mohammed bekam wegen seiner labilen Verfassung ein unbekanntes Mittel
injiziert, gegen seinen Willen. «Sieben, acht Leute hielten mich fest,
während sie mir die Spritze gaben.
Ich konnte nicht zu Boden schauen, nicht
hochschauen. Einen Monat war ich wie gelähmt, ich konnte nicht denken,
nichts. Sie haben mir Beruhigungstabletten gegeben und nur gesagt: Dein
Gehirn funktioniert nicht richtig. Sie haben mir diese Medikamente und
Spritzen gegen meinen Willen gegeben. Einige von uns bekamen jeden Monat
eine Spritze.» Wer wissen will, wie der Alltag im US-Gefangenenlager
Guantanamo aussieht, kann sich eigentlich nur an die wenigen mittlerweile
entlassenen Häftlinge wenden, fast durchweg Pakistaner und Afghanen.
Journalisten dürfen das Lager besichtigen, haben aber, ebenso wie
Familienangehörige, Anwälte und Menschenrechts-aktivisten, keinen Zugang zu
den Inhaftierten selbst. Doch die Aussagen dieser Ex-Häftlinge, dazu einige
wenige Informationen aus zensierter Post, offizielle Erklärungen und
Äusserungen von Wärtern und anderen Personen, die im Lager waren, fügen sich
zu einem Bild. In den zwei Jahren seines Bestehens hat sich dieses hastig
und provisorisch eingerichtete Lager zu einem Bastard des Völkerrechts
entwickelt. Die ausländischen Insassen bekommen dort die ganze Härte der
US-Justiz zu spüren, geniessen keines der Rechte, wie sie amerikanischen
Häftlingen zustehen. Dazu kommt die psychologisch verheerende Aussicht auf
zeitlich unbegrenzte Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren und
Einspruchsmöglichkeit.
Eine der wenigen politischen Äusserungen, die der
Aufmerksamkeit des Zensors entgingen, findet sich auf einer Postkarte, die
der französische Häftling Nizar Sassi im August 2002 an seine Familie
schrieb: «Wenn man Guantanamo definieren wollte: Hier ist man völlig
rechtlos.» Nach den Anschlägen vom 11. September reagierte die US-Regierung
schnell. Binnen 26 Tagen fanden die Luftangriffe in Afghanistan statt, Kabul
fiel binnen neun Wochen. Elf Wochen später war der Widerstand der Taliban
und ihrer nichtafghanischen Verbündeten in Nordafghanistan gebrochen.
Während sowohl Osama Bin Laden als auch dessen Taliban-Mitstreiter Mullah
Omar flüchtig blieben und auch das Terrornetzwerk al-Qaida längst nicht
zerschlagen war, errichteten die Amerikaner auf einer karibischen Insel ein
Sammellager.
Dorthin wurden Personen aus der ganzen Welt verfrachtet, die
man als Terroristen verdächtigte. Da die rund 660 Häftlinge von Guantanamo
keine Stimme haben und die Amerikaner in keinem einzigen dieser Fälle eine
Begründung für die Inhaftierung vorgelegt haben, verfügt die Aussenwelt nur
über die Berichte von Familienangehörigen und die pauschale US-Definition
«feindlicher Kombattant». Die meisten wurden in Afghanistan verhaftet, viele
wurden aber von anderen Ländern an die US-Behörden ausgeliefert. «Es ist
eine äusserst heterogene Gruppe. Etwa vierzig Nationalitäten, achtzehn
verschiedene Sprachen», sagt der Gerichtspsychiater Daryl Matthews, der im
Mai eine Woche in Guantanamo war. «Auf der einen Seite die
Arabisch-Sprechenden, auf der anderen die Urdu- beziehungsweise
Paschtu-Sprechenden. Es gibt hochgebildete und völlig Ungebildete. Manche
sind blutjung, manche sehr alt und weise. Manche sprechen ausgezeichnet
Englisch, andere überhaupt nicht. Manche sind sehr religiös, manche völlig
säkular.»
Zum Beispiel Mohammed und Razaq
Viele Häftlinge, darunter auch die wenigen, die seitdem freigelassen wurden,
geben an, zum Zeitpunkt ihrer Festnahme keiner militärischen Aktivität
nachgegangen zu sein. Mohammed arbeitete als Bäcker für die Taliban, Razaq
war Bote. Die beiden wurden von der Nordallianz in Nordafghanistan
festgehalten, von US-Sondereinheiten oder CIA-Angehörigen verhört, dann nach
Kandahar geflogen, wo sie wochen- oder monatelang festgehalten und von wo
sie schliesslich nach Guantanamo geschafft wurden. Razaq ist überzeugt, wie
er mir in seinem ersten Gespräch mit einem Journalisten erklärte, dass er
nur wegen seiner Englischkenntnisse nach Guantanamo gekommen sei. Im
überfüllten Gefängnis Shebergan, wo ihn die Nordallianz gefangen gehalten
habe, seien die pakistanischen, arabischen und usbekischen Häftlinge gefragt
worden, wer von ihnen Englisch spreche. Razaq meldete sich. Man führte ihn
mit gefesselten Händen in einen kleinen Raum, in dem zwei Amerikaner sassen.
Das Verhör dauerte drei, vier Minuten und bestand aus zwei Fragen: «Wie
heisst du? Warum bist du nach Afghanistan gekommen?» Dann wurde er wieder
hinausgeführt. Er konnte gerade noch eine Gruppe gefesselter Männer mit
verbundenen Augen sehen, bevor ihm selbst die Augen verbunden wurden. Sie
alle wurden zu einem Flugfeld gebracht und nach Kandahar geflogen. Zwischen
seinen Vernehmern und den Soldaten, die ihm die Augen verbanden, sei kein
Wort gefallen. Die Amerikaner hätten also schon beschlossen, ihn nach
Kandahar zu bringen, weil er Englisch sprach – ganz gleich, was bei seinem
Verhör herausgekommen sei. Ein zweiter entlassener Pakistaner, Mohammed
Saghir, 53 Jahre alt, erklärt, dass er in Shebergan nicht einmal verhört
wurde. Man habe ihn, gefesselt und mit verbundenen Augen, in einem
Helikopter nach Kandahar geflogen. Shah Mohammed wurde in einem Gefängnis in
Mazar-i-Scharif, unweit Shebergan, gefangen gehalten, bevor er nach Kandahar
kam. Dort begegnete er einem Australier namens Hicks. Schon bald zeigte
sich, dass die Gefangenen – offenbar je nach Nationalität und Hautfarbe –
unterschiedlich behandelt wurden. «Ich habe mit dem Australier gesprochen,
er konnte ein bisschen Urdu», sagt Mohammed. «Er sagte, er sei gekommen, um
am Dschihad teilzunehmen. Die Amerikaner haben ihm viele Fragen gestellt,
mehr als uns.
Er wurde auf ein Schiff gebracht, mich brachten sie nach
Kandahar.» Mohammed sollte Hicks in Guantanamo wiedersehen. Die
Freigelassenen berichten, wie brutal sie in Kandahar behandelt wurden. «Die
Amerikaner sind extrem hart mit den Leuten umgegangen, die sie
abtransportiert haben», sagt Razaq. «Mir haben sie die Hände so straff
gefesselt, dass ich die rechte Hand zwei Monate lang nicht benutzen konnte.
Sie haben uns aus dem Flugzeug rausgeworfen. Wir wussten lange nicht, dass
wir in Kandahar waren. Wir dachten, sie würden uns dort töten.» «Sie haben
uns einfach gepackt und aus dem Flugzeug rausgestossen», sagt Saghir.
«Manche haben sich dabei verletzt, zum Teil schwer.» Die Unterbringung in
Kandahar war sehr primitiv. Die Gefangenen schliefen in kleinen Gruppen auf
der blanken Erde unter Zeltplanen, umgeben von Stacheldraht und ständig
beobachtet. Jeder erhielt eine Decke. Es war Winter. Das Wasser, das sie in
Plastikflaschen zu trinken bekamen, war morgens gefroren, sagt Razaq. In den
ersten zwanzig Tagen waren Gespräche streng verboten. Niemand, sagt Saghir,
durfte länger als eine Stunde schlafen. Die Gefangenen wurden regelmässig
vernommen, mit langen Abständen zwischen den Verhören. Mohammed sagt: «Wir
haben die Amerikaner gefragt: ‹Warum haltet ihr uns fest?› Sie antworteten:
‹Wir werden euch verhören, und wer sich als unschuldig erweist, kommt frei.›
Niemand hat uns gesagt, dass sie uns nach Kuba bringen würden.»
Hungerstreiks und Zwangsernährung
Razaq hat Kandahar als einer der Letzten verlassen. Er sah, wie sich das
Lager leerte. Seine Aussage legt die Vermutung nahe, dass die Amerikaner die
nach Kandahar überstellten Gefangenen offenbar nur nach Guantanamo schicken
konnten. «Ich weiss nicht, warum sie mich verdächtigt haben, aber Gerüchten
zufolge hielten sie mich für einen hohen Vertreter des Taliban-Regimes»,
sagt Razaq. «Bei meinem letzten Verhör in Kandahar gab mir der amerikanische
Vernehmer aber Wasser zu trinken und versicherte mir, dass ich freigelassen
würde. Mehrmals wurde mir dies versprochen. Ich hatte keine Ahnung, wohin
die Leute kamen, die aus dem Lager verschwanden. Wir haben das Rote Kreuz
gefragt, aber die haben uns nichts gesagt. Ich war in der letzten Gruppe,
die nach Kuba kam.» Vor dem Abtransport wurde den Gefangenen der Bart
abrasiert. Das geschehe, erfuhr Razaq, weil die Gefangenen Läuse bekommen
hätten. «Wir wehrten uns, aber vier, fünf Soldaten hielten uns fest, sie
hatten ein Instrument dabei, mit dem sie uns einfach den Bart schoren», sagt
Saghir.
Für den Flug bekamen die Gefangenen die orangefarbenen Overalls, die
von Fernsehbildern ihrer Ankunft in Guantanamo bekannt sind. Sie wurden an
Händen und Füssen gefesselt, man verband ihnen die Augen, knebelte sie und
verstopfte ihnen sogar die Ohren. An Bord des Militärflugzeugs wurden die
Füsse angekettet, die Hände auf den Lehnen festgebunden, sie selbst
festgeschnallt. «Der Dolmetscher sagte: ‹Bleibt ruhig sitzen, seid
unbesorgt, ihr kommt nach Hause.›», sagt Mohammed. «Irgendwann in der Nacht
verliessen wir Kandahar, abends kamen wir in Kuba an. Irgendwo war ein
Zwischenstopp, wo wir in ein anderes Flugzeug umstiegen.» Auf Kuba, sagt
Saghir, wurden die Gefangenen, gefesselt und mit verbundenen Augen, aus dem
Flugzeug geworfen. Manche brachen sich die Nase. «Ich hatte einen Bluterguss
unter dem linken Auge, wo ich mit dem Gesicht aufgeprallt bin.» Die ersten
Gefangenen wurden vom Rollfeld zu einem Lastwagen geschafft, von dort zu
einem Boot, das sie auf die andere Seite der Bucht brachte, und dann ging es
weiter in das Camp X-Ray, in die kahlen Drahtkäfige, die in den ersten
Monaten des Jahres 2002 ihre Unterkunft waren. Die ersten Fotos von
gefesselten, geknebelten Menschen in leuchtend orangefarbenen Overalls
wurden eine mächtige Waffe in den Händen all jener, die den amerikanischen
Krieg gegen den Terrorismus ablehnten.
Ein Staat, der nichts von einem
internationalen Strafgerichtshof wissen wollte, errichtete hier ein brutales
internationales Gefängnis – das schienen die Fotos auszudrücken. Die bizarre
Lage von Guantanamo selbst, dieser befestigte amerikanische Brückenkopf auf
einem der letzten Vorposten des Kommunismus, verstärkte den Eindruck, dass
die Gefangenen an einem völlig isolierten Ort gelandet waren. In den ersten
Wochen von Camp X-Ray ging es noch härter zu, als es die Fotos von den engen
Käfigen nahe legten. Die Gefangenen durften nicht miteinander sprechen,
nicht einmal flüstern. «Den ersten Monat habe ich in völligem Schweigen
verbracht», sagt Mohammed. In der Anfangsphase wurde auf die islamischen
Gebetsvorschriften keine Rücksicht genommen. «In den ersten sechs Wochen
durften wir mit niemandem sprechen und auch nicht beten», sagt Saghir. «Für
die Mahlzeiten hatten wir nur zehn Minuten. Als ich einmal beten wollte,
kamen vier, fünf Mann und schlugen mich. Nach sechs Wochen machten wir
Hungerstreik.»
US-Offizielle in Guantanamo räumen ein, dass es tatsächlich
zu Hungerstreiks kam und manche Häftlinge zwangsernährt wurden – doch aus
Sicht der Häftlinge waren es erfolgreiche Proteste. Laut Saghir wurde das
absolute Redeverbot erst nach einem massiven viertägigen Hungerstreik
aufgehoben, ein Lautsprecher wurde angebracht, mit dem zum Gebet gerufen
wurde, für die Mahlzeiten wurde mehr Zeit gelassen. Und es wurden Exemplare
des Korans und andere Bücher verteilt.
Keine Informationsmöglichkeiten
Mohammed berichtet von einem achttägigen Hungerstreik, der stattfand,
nachdem ein Wärter einen Koran auf die Erde geworfen hatte. Am Ende
entschuldigte sich ein Vorgesetzter und versprach, dass derlei nicht wieder
passieren werde. Für Razaq gehörten Proteste zum Lageralltag. «Anfangs gab
es einen Massenhungerstreik, später waren es nur Einzelne, die das Essen
verweigerten.» Manchmal rissen die Insassen ihre Plastikschilder mit der
Häftlingsnummer ab und warfen sie den Wärtern vor die Füsse oder schlugen
auf die Bänke. Manchmal reagierten die Wärter mit dem Einsatz von Tränengas.
Das Leben in X-Ray wurde leichter, nachdem das Sprechverbot aufgehoben war.
Die Insassen sollten also miteinander reden können, aber sie wurden so
verteilt, dass nicht allzu viele eine Gruppe bildeten, die eine Sprache
sprachen. Mohammeds unmittelbare Nachbarn waren Hicks, ein Bangladescher,
zwei Araber, an deren Namen er sich nicht mehr erinnert, sowie Rokhanay, ein
Nordafghane. Etwas weiter entfernt waren Asif Iqbal aus England, der Araber
Abu Nakar sowie zwei Südafghanen, Wasiq und Nurullah. «Asif hatte einen
Vorteil, weil er mit den Amerikanern Englisch sprechen konnte.
Er war sozusagen mein Dolmetscher. Er war auf Besuch nach Pakistan gekommen und
nach Afghanistan weitergereist, wollte sich aber dort nicht an Kämpfen
beteiligen. Er hat die Wärter von Zeit zu Zeit beschimpft. Aber die
Amerikaner haben nicht reagiert. David Hicks konnte etwas Urdu, also habe
ich mit ihm gesprochen, und er hat es an Asif weitergegeben.» In Guantanamo
gibt es keine Informationsmöglichkeiten. Die Häftlinge wissen nicht, was
draussen in der Welt passiert. Kontakt haben sie, abgesehen von den Wärtern
und Vernehmern, nur mit Vertretern des Internationalen Roten Kreuzes und
gelegentlichen Besuchern von Geheimdiensten und diplomatischen Vertretern
ihrer jeweiligen Länder. Das IKRK äussert sich nicht über die Verhältnisse
in Guantanamo, und überhaupt ist kaum etwas über das Lagerleben nach
draussen gedrungen. Schwedische Aktivisten, die sich für die Entlassung
eines Häftlings eingesetzt haben, konnten sich dank der schwedischen
Informationsrechte Zugang zu der zensierten Version des Berichts des
Geheimdienstoffiziers Bo Eriksson verschaffen, der Guantanamo im Februar
2002 gemeinsam mit einem anderen Schweden besucht hatte. Aus diesem und
anderen Dokumenten geht hervor, dass bei den Gesprächen zwischen den
Schweden und dem Häftling ein eigens herbeibeorderter schwedischsprachiger
US-Offizier anwesend war.
Und trotzdem verlangten die Amerikaner eine Kopie
von Erikssons Bericht. Eriksson schrieb: «Die Zellen sind ca. 2 · 3 Meter
gross, die Wände sind aus Maschendraht, der Boden ist aus Beton, die Decke
aus Metall. Im Innern haben die Häftlinge eine Matratze, eine Decke, ein
Handtuch, zwei Eimer und Wasserflaschen aus Plastik. Ausserhalb ihrer Zellen
tragen die Häftlinge orangefarbene Overalls und Plastiksandalen. Innerhalb
der Zellen können sie sich frei bewegen, aber ausserhalb tragen sie Hand-
und Fussschellen. Die Handschellen sind am Gürtel befestigt, so dass sie
Hände und Arme nur eingeschränkt bewegen können. Mit seinen Handschellen
konnte der Häftling nur sehr mühsam Wasser aus einem Becher trinken. Die
Fussfesseln lassen nur ganz kleine Schritte zu. Ein Wärter legt dem
Gefangenen eine Hand auf den Nacken, drückt den Kopf herunter, so dass der
Betreffende die ganze Zeit zu Boden schaut. Die Gefangenen werden nicht
gefoltert oder anderweitig entwürdigend behandelt. In den Maschendrahtzellen
sind sie keinen Moment unbeobachtet. Einmal hatten Insassen eine
Plastikverkleidung an den Draht gehängt, um sich vor Blicken zu schützen,
doch sie mussten sie wieder entfernen, weil es trotz des kühlen Meereswinds
unerträglich heiss wurde.»
«Richtige» Antworten werden belohnt
Im April 2002 wurde Camp X-Ray geschlossen. Die Häftlinge wurden nach Camp
Delta verlegt. Ihre Bärte wuchsen wieder. Die neue Unterkunft, bis heute der
Hauptteil des Lagers, besteht aus Blöcken zu je 48 Käfigen, zwischen denen
ein schmaler Gang verläuft. Die Blöcke haben keine Aussenwände, nur ein
schräges Dach; sie stehen auf Betonplatten, und das ganze Areal ist umgeben
von hohen, undurchsichtigen grünen, stacheldrahtbewehrten Zäunen. Die Käfige
sind so lang und breit wie ein ausgewachsener Mann, sie sind ausgestattet
mit einer Metallpritsche, einem Wasserhahn und einer Toilette. Neben diesem
Standardtyp gibt es noch mindestens sechs andere Käfigarten. In Camp Four,
wo gefügige, kooperationswillige Häftlinge untergebracht sind, geht es etwas
lockerer zu. Die Häftlinge können sich in den schlafsaalähnlichen
Unterkünften frei bewegen. Innerhalb von Camp Four gibt es eine weitere
Kategorie von Gefangenen, die zur Vorbereitung auf ihren bevorstehenden
Prozess von den anderen isoliert werden.
In Camp Delta gibt es eine besondere Abteilung für drei jugendliche Häftlinge, deren Haftbedingungen
weniger hart sind. Ausserdem gibt es Block Delta, wo psychisch auffällige
Häftlinge unter besonderer Beobachtung stehen, sowie den India Block und
vielleicht noch einen weiteren Block mit Einzelhaft-Strafzellen. Einige
wenige Gefangene, vermutlich zwischen zwei und fünf, werden in einem
Hochsicherheitstrakt in Camp Delta in ständiger Isolationshaft gehalten.
Mohammed, Saghir und Razaq haben allesamt Bekanntschaft mit den Strafzellen
gemacht. Saghir sagt, er habe mehr als eine Woche in einem der fensterlosen
Metallkästen zugebracht, nachdem ein Araber einen der Wächter angespuckt
hatte und die gesamte Reihe von 24 Käfigen mit Einzelhaft bestraft wurde.
Dass die Häftlinge so lange in Isolation gehalten werden, wird offiziell
unter anderem damit begründet, dass sie als wichtige Informationsquellen
verhört werden müssen.
Es haben ausserordentlich viele Verhöre stattgefunden: Jeder Gefangene wird üblicherweise zwischen zehn- und
zwanzigmal verhört, das entspricht, bei einer durchschnittlichen Verhördauer
von neunzig Minuten, etwa 15000 Stunden Verhörprotokollen, vielleicht 200
Millionen Wörtern oder dem Umfang von 250 Bibeln. Die Häftlinge sagen aber
ausnahmslos, dass sie jedesmal von einer anderen Person verhört und ihnen
jedesmal dieselben Fragen gestellt wurden. Das Vernehmungszimmer beschreiben
die Häftlinge als ein kleines fensterloses Zimmer mit Klimaanlage und
Neonlicht an der Decke. Ein, zwei oder drei Amerikaner stellen Fragen,
nötigenfalls über einen Dolmetscher. An Mobiliar gibt es nur einen Holztisch
mit Metallbeinen und Metallstühle. Die Verhöre werden auf Band aufgenommen
und protokolliert. Auf dem Boden gibt es einen Metallring, an dem die
Häftlinge fixiert werden.
Saghir sagt: «Sie fragen beispielsweise: ‹Wo ist
Osama? Kennst du einen Anführer von al-Qaida? Bist du ihnen persönlich
begegnet?› Meine Antworten haben sie nicht kommentiert. Und wenn ich sie
fragte, antworteten sie: ‹Wir wissen nicht, wann du freikommst. Das wissen
nur unsere Chefs, wir tun hier nur unsere Arbeit.›» Manchmal hatte es den
Anschein, als sollten die Häftlinge Mitgefühl mit den Opfern des 11.
September erkennen lassen. Saghir erfuhr einmal von einem Dolmetscher, dass
er mit einer «richtigen» Antwort seiner Entlassung näher gekommen sei. «In
meinem letzten Verhör wurde ich gefragt: ‹Würdest du die Leute, die die
Zwillingstürme angegriffen haben, als Muslime bezeichnen?› Ich antwortete:
‹Nein, aber ich bin kein Religionsgelehrter. Ich kann diese Leute nicht
beurteilen.› Daraufhin sagte der Dolmetscher: ‹Du bist einen Schritt weiter.
Für dich gibt es keine Verhöre mehr.›» Nach Aussage der entlassenen
Häftlinge hat es nach Kandahar keine Folter gegeben, nicht einmal
aggressives Verhalten seitens der Vernehmer, doch Razaq sagt, dass
Häftlinge, die auf bestimmte Fragen keine Antworten gaben, zur Strafe in
Einzelhaft gesteckt wurden. Manche Verhöre scheinen eher mentalen Spielchen
zu gleichen. Einmal wurde Razaq faktisch erklärt, dass er frei sei. «Also,
deine Akte ist okay. Wohin sollen wir dich bringen?» Razaq antwortete
hoffnungsvoll: «Peschawar?» Sofort wurde er weiter verhört, sogar einem
Lügendetektortest unterzogen. «Vielleicht gehört das zu ihren Methoden»,
sagt Razaq. «Zuerst bringen sie mich dazu, mich zu freuen, und dann geht
alles wieder von vorn los.»
Die Gefängnisindustrie
Guantanamo ist ein trostloser, bedrückender Ort. Aber für Europäer, die die
Sicherheitsmassnahmen, die Ketten und die demütigenden Käfige, irritierend
finden, ist vielleicht nicht auf den ersten Blick klar, dass es nicht viel
anders zugeht als in einem rauen US-Gefängnis. Wenn man sich nur auf die
äusseren Bedingungen konzentriert, besteht die Gefahr, dass man die
Besonderheit von Guantanamo aus den Augen verliert: Dort werden auf
Anordnung von Präsident Bush in für westliche Verhältnisse beispiellos
willkürlicher Weise Hunderte von Personen gefangen gehalten, die weder
wissen, wie lange ihre Haft dauert, noch ihren Fall vor einem Gericht
darlegen können. Ebendies finden Juristen in Amerika und Europa so
besorgniserregend.
Es sind vor allem diese Verhältnisse, unter denen die
Gefangenen und ihre Angehörigen am meisten leiden. Und die eigenartigen
Gebilde, die das Pentagon zur Aburteilung einiger Häftlinge eingerichtet
hat, die Militärkommissionen, bereiten offenbar selbst den
Militärverteidigern Kopfzerbrechen. «Die amerikanischen Gefängnisse sind
eine grosse Industrie», sagt Daryl Matthews. «Wir stecken viele Leute hinter
Gitter. Kaum jemand weiss, wie viele Gefängnisse es gibt und welch schlimme
Verhältnisse dort herrschen. Leuten, die als besonders gefährlich gelten,
werden Ketten angelegt. Ich war in US-Gefängnissen, die sehr viel sicherer
sind als Guantanamo. Ich habe auf dem Festland mit maskierten und
gefesselten Leuten gesprochen. Diese Gefängnisse sind schreckliche Orte. Ich
glaube nicht, dass es den Insassen von Guantanamo in erster Linie um die
Haftbedingungen geht. Aber es geht um Menschenrechte.» Matthews, ein Gegner
der Todesstrafe, tritt bei Strafprozessen als psychiatrischer Berater auf.
Er weiss nicht, ob er es mit seinem Gewissen vereinbaren könnte, seine
Dienste auch den Militärkommissionen anzubieten, die über die
Guantanamo-Häftlinge urteilen sollen.
Die Kommissionen können die strengsten
Urteile sprechen, einschliesslich Todesstrafe. Anders als Vergewaltiger,
Kindesentführer und Serienmörder, anders als Timothy McVeigh, der
Oklahoma-Bomber, anders als Sowjetspione während des Kalten Krieges oder
Nazi-Kriegsverbrecher, selbst anders als der Schuhbomber Richard Reid, der
sich als Al-Qaida-Anhänger zu erkennen gab, wissen die Hunderte von
Häftlingen in Guantanamo nicht, weshalb sie seit zwei Jahren festgehalten
und wann sie, wenn überhaupt, freigelassen werden, ob man ihnen den Prozess
machen wird oder ob sie jemals die Chance haben, ihren Status vor einem
ordentlichen Gericht anzufechten. Matthews weist darauf hin, dass diese
Isolation und Ungewissheit eine ungeheure Last für die Häftlinge ist.
«Belastungen gibt es auch in jedem Hochsicherheitsgefängnis in den USA. Die
Insassen langweilen sich, sie haben keine Privatsphäre. Sie können sich
etwas bewegen, aber nicht sehr viel.
Sie sind mit Fremden konfrontiert, die
ihnen nicht wohlgesinnt sind, mit Wärtern und anderen Insassen. Sie haben
keinen Zugang zu persönlichen Dingen. Das Häftlingsdasein ist furchtbar...
Wenn ich von den britischen Gefangenen lese, deren Angehörige sich Sorgen
machen, dass Häftlinge gefoltert werden, weil sie Depressionen haben, dann
würde ich diesen Angehörigen gern sagen, dass man im Gefängnis auch ohne
Folter Depressionen bekommt. Schon eine normale Gefängnisumgebung führt zu
tief greifenden seelischen Veränderungen, zu Depression und gar zu
Selbstmord. In Guantanamo gibt es aber noch eine zusätzliche, ganz besondere
Belastung: Gefangene in normalen Haftanstalten denken daran, wie lange sie
noch absitzen müssen, sie denken an das nächste Gespräch mit ihrem Anwalt,
was sie tun können, um bald herauszukommen. Das sind wichtige Möglichkeiten,
mit dem Haftstress fertig zu werden. Die Leute in Guantanamo können da
überhaupt nichts machen.»
Uniform als Killer-Kriterium
Nach den Anschlägen vom 11. September zeigte sich, dass Bush und
Justizminister Ashcroft dazu neigten, das Böse mit gnadenloser Justiz zu
bekämpfen. Sie forderten die Richter auf, möglichst strenge Urteile zu
sprechen, und sahen in Anwälten Hindernisse. Die «Krieg gegen den
Terror»-Rhetorik passte zu dem rechten Politikverständnis, wonach
rückgratlose Liberale, die für die Rechte von Angeklagten eintreten, die
Opfer von Gewaltverbrechen verraten. Ashcroft machte die Parallele deutlich,
als er darauf hinwies, dass die Regierung im Kampf gegen den Terrorismus
genauso vorgehe wie bei der Verbrechensbekämpfung. «Fast zwei Jahrzehnte
predigten einige Leute in Washington Defätismus und Kapitulation im Kampf
gegen Drogenschmuggler, Kriminelle und Gesetzesbrecher. Sie glaubten, dass
mit Strafverfolgung nichts auszurichten sei.
Sie glaubten, wir seien dazu verurteilt, mit der zunehmenden Kriminalität zu leben. Sie argumentierten,
dass Straftaten das Ergebnis von Umständen und Verhältnissen seien, auf die
wir keinen Einfluss hätten... Wir haben die ideologischen Kritiker
widerlegt. Wir haben bewiesen, dass die richtigen Ideen – strenge Gesetze,
strenge Urteile und ständige Kooperation – stärker sind als der Straftäter
oder die Terroristenzelle.» Ein Vorgeschmack dessen, wie die Regierung Bush
«Defätismus und Kapitulation» bei der Verfolgung von Terroristen zu
vermeiden gedachte, war die Verhaftung von mehr als eintausend ausländischen
Muslimen unmittelbar nach dem 11. September. Technisch gesehen wurden sie
wegen ungültiger Visa und Verstosses gegen andere Einwanderungsvorschriften
festgehalten, doch gegen 762 Personen wurde wegen vermuteter Kontakte zu
terroristischen Zellen ermittelt. Nur wenige, wenn überhaupt, wurden
offiziell beschuldigt, aber alle kamen erst nach Wochen oder Monaten wieder
frei.
Wer in Brooklyn festgehalten wurde, durfte anfänglich nicht einmal
Kontakt zu Anwälten oder Familienangehörigen aufnehmen, und manche
berichteten von brutalen und rassistischen Übergriffen. Die Anordnung des
Präsidenten, die die Grundlage für die Errichtung des Camps in Guantanamo
war und derzufolge alle Personen, die wegen terroristischer Aktivitäten oder
Kriegsverbrechen inhaftiert waren, von Militärkommissionen abzuurteilen
seien, wurde am 13. November 2001 erlassen, dem Tag, als die Nordallianz
Kabul eroberte. Nach dem unerwarteten Fall von Masar-i-Scharif wenige Tage
zuvor war der Regierung schlagartig klar geworden, dass man auf Hunderte,
vielleicht Tausende von Talibankämpfern Zugriff haben würde, unter denen
sich Terroristen befinden könnten. Plötzlich stellte sich die Frage, welchen
Status man diesen Gefangenen geben sollte, um sie verhören, beliebig lange
festhalten und verurteilen zu können. Washington hätte seine Ziele durchaus
unter Beachtung des Völkerrechts verfolgen können. Stattdessen schuf es sein
eigenes Recht. Der erste Schritt, mit dem man sich von den internationalen
Normen entfernte, war die Weigerung, die afghanischen Gefangenen als
Kriegsgefangene zu betrachten.
Ein Informant erzählte mir eine Geschichte,
wonach Präsident Bush und seine Berater beim Studium der Genfer Konvention
auf den Punkt stiessen, dass Kriegsgefangenen täglich ein Betrag zwischen 8
und 75 Franken zustehe. Da soll Bush die Beherrschung verloren und seinen
Mitarbeitern aufgetragen haben, einen Weg zu finden, der die Möglichkeit
bietet, diese Gefangenen nicht als Kriegsgefangene einzustufen. Offiziell
versteckt man sich hinter der Tatsache, dass die afghanischen
Widerstandskämpfer keine Uniform trugen. Es stimmt, die Taliban und die
nichtafghanischen Kämpfer trugen keine Uniform, doch das bedeutet nicht,
dass sie keine Kriegsgefangenen sind. In Artikel 5 der Dritten Genfer
Konvention heisst es eindeutig: Jeder gefangen genommene Kämpfer, dessen
Status ungeklärt ist, soll so lange als Kriegsgefangener betrachtet werden,
bis über seinen Status von einem «kompetenten Tribunal» entschieden wurde.
Während des Golfkriegs von 1991 und im Irak-Krieg haben die USA Hunderte
solcher Tribunale abgehalten. Aber nicht in Afghanistan. Warum? Major John
Smith, Militärstaatsanwalt jener Abteilung im Pentagon, die die
bevorstehenden Prozesse gegen die Guantanamo-Häftlinge vorbereitet, erklärt,
dass dies nicht erforderlich gewesen sei: «Für den Präsidenten stand ausser
Zweifel, dass diese Personen nicht als Kriegsgefangene anzusehen und
Tribunale daher nicht notwendig sind.»
Feindliche Kombattanten» überall
Eugene Fidell, ein ehemaliger Militärverteidiger, heute Präsident des
National Institute of Military Justice, ist der Ansicht, dass die
Entscheidung, keine Tribunale abzuhalten, den hohen moralischen Anspruch
Amerikas geschwächt habe. «Ob die Entscheidung des Präsidenten in Bezug auf
Al-Qaida- oder Taliban-Angehörige richtig oder falsch oder sagen wir
teilweise falsch war, sie stellte einen Scheideweg dar. Und der Weg, der
dann beschritten wurde, hat unserem Ansehen in der Welt erheblich
geschadet.» Selbst mit offiziellen Tribunalen hätten die Kriegsgefangenen
verhört und vor Gericht gestellt werden können. Man hätte auch einige der
kümmerlichen Figuren aussondern und ihnen Guantanamo ersparen können, wie
etwa Mohammed Hagi Fiz, einem zahnlosen, gebrechlichen Afghanen in den
Siebzigern, der im Oktober 2002 freigelassen wurde, oder Abdul Razeq, einem
an Schizophrenie leidenden Afghanen, der im Mai 2002 mit Medikamenten für
ein halbes Jahr entlassen wurde.
Der amerikanische Standpunkt ist insofern
merkwürdig, als die Guantanamo-Häftlinge zwar nicht im Sinne der Genfer
Konvention, aber doch in bestimmter Hinsicht als Kriegsgefangene betrachtet
werden – sie können bis Kriegsende festgehalten werden. Washington
bezeichnet sie als «feindliche Kombattanten» – ein Terminus, der im
Völkerrecht nicht anerkannt wird. Auf die Frage «Welcher Krieg?» antwortet
die US-Regierung: Der Krieg gegen den Terror. Mit anderen Worten, die
Gefangenen können so lange festgehalten werden, wie es Präsident Bush
gefällt. Im Grunde auf unbestimmte Zeit, denn dieser Krieg, anders als
normale Kriege, in denen es um ein Territorium und einen konkreten
militärischen Gegner geht, existiert nur als Begriff. Den «Krieg» gab es ja
schon vor dem 11. September (in fast jedem Jahr der letzten Dekaden waren
US-Bürger oder US-Einrichtungen Ziel terroristischer Anschläge geworden).
Und dass ein amerikanischer Politiker das Risiko eingeht und den «Krieg
gegen den Terror» für beendet erklärt, ist kaum vorstellbar. «Jemanden als
feindlichen Kombattanten festzuhalten, ist nicht verboten, man nimmt ihn aus
dem Schlachtfeld heraus», sagt Militärstaatsanwalt Major Smith. «Wir führen
Krieg gegen al-Qaida. Das ist ein realer Krieg, kein Krieg im übertragenen
Sinn. Ich bin überzeugt, wir werden al-Qaida besiegen können. Es ist eine
politische Situation und eine schwerwiegende Entscheidung, aber ich glaube,
irgendwann werden wir sagen können, dass al-Qaida keine Bedrohung mehr für
uns darstellt. Irgendwann werden al-Qaida und der Terrorismus besiegt sein.»
Der Status «feindlicher Kombattant» und die Nichtanwendung der Genfer
Konvention besagen jedoch, dass die Häftlinge von Guantanamo bis zum Ende
eines potenziell endlosen Kriegs festgehalten werden, ohne die Chance, vor
einem Gericht beweisen zu können, dass sie mit diesem Krieg nichts zu tun
hatten.
Da sich die USA nicht verpflichtet sehen, sie vor ein Gericht zu
bringen, müssen sie ihnen auch keine Anwälte zur Verfügung stellen. Und
selbst wenn jemand bei einem Verfahren freigesprochen würde, könnte man ihn
einfach erneut festsetzen. «Unsere Regierung misst mit zweierlei Mass», sagt
Anwalt James Harrington, der einen US-Bürger vertritt, der (nicht in
Guantanamo) auf seine Verurteilung wegen Terrorismus wartet. «Wir sagen, es
sind keine Kriegsgefangenen, und sie werden auch nicht als solche behandelt,
und gleichzeitig sagen wir, wir führen Krieg. Wir müssen uns für eines
entscheiden. Wenn wir verkünden, dass wir das beste Rechtssystem der Welt
haben, sollten wir diese Leute nicht so unfair behandeln. Diese Burschen
werden irgendwo aufgegriffen, in ein anderes Land verfrachtet, festgehalten,
aber nicht in den USA, so dass sie nicht dieselben Rechte wie in den USA
haben, und werden nach Bestimmungen behandelt, die die Regierung zu ihrem
eigenen Nutzen erlassen hat.» Die Art und Weise, wie die US-Regierung mit
dem Begriff «feindlicher Kombattant» umgeht, erfüllt Anwälte und
Menschenrechtsaktivisten mit grosser Sorge. Inzwischen, so scheint es, kann
jeder, ob US-Bürger oder nicht, jederzeit zum «feindlichen Kombattanten»
erklärt und damit auf unbestimmte Zeit festgehalten werden. Dieser Status
schleicht sich sogar auf dem Festland ein.
Allmächtiger Wolfowitz
Mittlerweile sitzen schon drei «feindliche Kombattanten» in
US-Militärgefängnissen. Einer ist Ali Saleh Kahlah al-Marri, ein katarischer
Student in Illinois, der wegen einfacher Straftaten (mit nur indirektem
terroristischem Hintergrund) festgenommen worden war. Als sich zeigte, dass
der Staatsanwalt Mühe mit der Anklage hatte, wurde al-Marri zum «feindlichen
Kombattanten» erklärt und sofort in ein Hochsicherheitsgefängnis verlegt.
Nun konnte der Prozess ausgesetzt und der Angeklagte für unbestimmte Zeit
festgehalten werden. Laut Präsident Bushs Verfügung vom 13. November 2001
sollen alle «feindlichen Kombattanten» human behandelt werden, Rasse,
Hautfarbe, Religion, Geschlecht, Geburt, Reichtum oder ähnliche Kriterien
sollen keine Rolle spielen. Dieses Bekenntnis lässt sich aber kaum mit der
höchst unterschiedlichen Behandlung von drei Personen vereinbaren, die als
angebliche Talibankämpfer verhaftet wurden. Der einzige weisse Amerikaner in
dieser Kategorie, John Walker Lindh, wurde vor ein ordentliches Gericht
gestellt und verurteilt.
Ein zweiter Amerikaner, allerdings von saudischer
Herkunft, Yasser Hamdi, wurde von Guantanamo in ein Marinegefängnis in den
USA verlegt und wird dort noch immer als «feindlicher Kombattant» isoliert
festgehalten. Mohammed Tariq, ein Pakistaner aus Shah Mohammeds Dorf, ist
noch immer in Guantanamo. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, er könnte
etwas getan haben, was Lindh oder Hamdi nicht getan haben. Die Spekulationen
über eine bevorstehende Entlassung europäischer Häftlinge, so willkommen sie
auch ist, unterstreichen nur die willkürliche Behandlung der Häftlinge.
Nichts zeigt den neuen Umgang der US-Behörden mit Verdächtigen und die
unfaire Behandlung der Guantanamo-Häftlinge besser als der Fall der
«Lackawannna Six» – einer Gruppe von jemenitischen Amerikanern aus Buffalo,
die der Unterstützung von al-Qaida beschuldigt wurden. Am Ende plädierten
alle auf «schuldig» – aber erst, nachdem die Staatsanwaltschaft darauf
hingewiesen hatte, dass man die Angeklagten andernfalls als «feindliche
Kombattanten» bezeichnen werde. «Natürlich hat uns das nicht kalt gelassen»,
sagt Harrington, der Verteidiger eines der Angeklagten. «Ich finde dieses
Vorgehen zweifelhaft.»
Für die Angeklagten änderte sich letztlich nichts.
Ihr Fall wurde weiterhin von einem Zivilgericht an ihrem Wohnsitz
verhandelt, und sie hatten weiterhin ihre Anwälte. Die Häftlinge von
Guantanamo haben diese Rechte nicht. Sie kommen vor Militärkommissionen und
werden nach einem System abgeurteilt, das weltweit auf Ablehnung stösst, von
amerikanischen Juristen abgelehnt wird und sogar von einigen der
Militäranwälte, die in diesen Kommissionen mitwirken, mit Missfallen
betrachtet wird. Um Vorbilder für die Kommissionen zu finden, musste die
US-Regierung sechs Jahrzehnte zurückgehen, in eine Zeit, als die Genfer
Konvention noch nicht existierte, und zwei Nazi-Agenten-Fälle ausgraben.
Mindestens zwei andere Optionen hätten sich angeboten – die zivilen
Gerichte, vor denen in der Vergangenheit Terroristenfälle (der Anschlag auf
das World Trade Center 1993) verhandelt wurden, und Kriegsgerichte, vor
denen sich beispielsweise der abgesetzte panamaische Diktator Noriega
verantworten musste. Warum Militärkommissionen? Die Regierung Bush
rechtfertigt ihre Entscheidung damit, dass den Guantanamo-Häftlingen wegen
vermuteter «Kriegsverbrechen» der Prozess gemacht werden soll und dass die
Kommissionen die Gewähr dafür bieten, dass geheime Informationen nicht an
die Öffentlichkeit dringen. Kritiker bezeichnen beide Argumente als nicht
stichhaltig und sagen, dass die Militärkommissionen in Wahrheit deswegen
eingesetzt werden, weil sie die Möglichkeit bieten, kurzen Prozess zu
machen.
Kritisiert wird vor allem, dass der Staat die Gespräche zwischen
Verteidiger und Mandant überwachen lässt und dass die Angeklagten nach einer
Verurteilung durch eine Militärkommission keine Möglichkeit haben, vor einem
unabhängigen Gericht Berufung einzulegen. Aber es gibt noch weitere Aspekte,
die sich geradezu kafkaesk ausnehmen. Das Erste, was einem Beobachter der
Militärkommissionen auffällt, ist die enorme Macht des stellvertretenden
US-Verteidigungsministers. Paul Wolfowitz ernennt die Mitglieder der
Kommissionen. Er kann jeden Richter – noch im letzten Moment – durch einen
anderen ersetzen. Er ernennt die Militärstaatsanwälte. Er bestimmt, wer vor
diesen Kommissionen erscheint und welche Anklage erhoben wird. Jeder
Angeklagte erhält einen Verteidiger – aus einem Pool, der von Wolfowitz
nominiert wird. Jeder Angeklagte darf einen Zivilverteidiger hinzuziehen,
den er aber aus eigener Tasche bezahlen muss, und er muss angeben, wo dieses
Geld ist, und riskiert, dass es – auf Anweisung von Wolfowitz – wegen des
Verdachts der Verwendung für terroristische Zwecke beschlagnahmt wird.
Verurteilte Angeklagte müssen aber nicht alle Hoffnung aufgeben. Sie können
sich an einen Ausschuss wenden, dessen drei Mitglieder von Wolfowitz ernannt
werden.
Die Empfehlung dieses Ausschusses wird zur endgültigen Entscheidung
an Wolfowitz überwiesen. «So funktioniert das System», sagt der Anwalt Clive
Stafford-Smith, der einige der britischen Guantanamo-Häftlinge vertritt. «Es
ist eine vielköpfige Hydra, und jeder Kopf trägt das Gesicht von Paul
Wolfowitz.» Angesichts der Hindernisse, die zivilen Anwälten in den Weg
gelegt werden – der Betreffende muss US-Bürger sein, sich auf eigene Kosten
überprüfen lassen, er muss seine Kanzlei aufgeben und für lange Zeit nach
Guantanamo umziehen –, dürften es fast nur gewissenhafte Militärverteidiger
sein, die vielen der Inhaftierten die Hoffnung auf einen fairen Prozess
bieten. Unter den wenigen erfahrenen Militärverteidigern, die dem Pentagon
zur Verfügung stehen, herrscht offenbar grosser Unmut. Sie empören sich über
die Einschränkungen, die ihnen auferlegt werden, und verstehen nicht, warum
die Regierung auf Präzedenzfälle in den vierziger Jahren zurückgegriffen hat
und sechs Jahrzehnte Entwicklung der US-Militärgerichtsbarkeit ignoriert.
Sechs Militärverteidiger arbeiten für das Office of Military Commissions im
Pentagon.
Namentlich bekannt ist nur der Chefverteidiger, Colonel Willie
Gunn. Nach Erkenntnissen der britischen Tageszeitung Guardian sind die
übrigen fünf nicht die ursprünglich berufenen Anwälte. Diese wurden
entlassen, nachdem sie sich geweigert hatten, die Einschränkungen ihrer
Tätigkeit hinzunehmen. «Im Frühjahr 2003 wurden Militärverteidiger gesucht»,
sagt einer der ursprünglichen Kandidaten. «Es gab ein Auswahlverfahren, und
es wurden die richtigen Leute ausgewählt. Alles tüchtige, fähige Anwälte.
Schon am ersten Tag erklärten mindestens zwei, dass sie mit diesen
Einschränkungen ihre Mandanten nicht vernünftig verteidigen können. Auch die
übrigen beschlossen dann, dass sie nicht mitmachen würden. Am nächsten Tag
wurden sie gefeuert.» Das Office of Military Commissions bestreitet dies.
«Derlei ist nie passiert», sagt Major Smith. «Die Militärkommission ist ein
Instrument der Justiz.» Doch nach Erkenntnissen des Guardian scheint in der
Kommission grosse Unzufriedenheit zu herrschen – eine beunruhigende
Situation, da hier möglicherweise die Todesstrafe verhängt wird. Eugene
Fidell sagt, dass die Militärjuristen – in der US-Armee gibt es etwa
fünftausend aktive Pflichtverteidiger – empört sind über Alberto Gonzalez,
einen Berater des Weissen Hauses, der in einem Zeitungskommentar erklärte,
dass Militärjustiz und Militärkommissionen ein und dasselbe sind.
Und Anwalt
Clive Stafford-Smith: «Ein Militärstaatsanwalt sagte mir, dass vermutlich
dreissig Prozent der Leute in Guantanamo keinen Dreck am Stecken haben. Sie
waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Wenn der Staatsanwalt
dreissig Prozent sagt, glaube ich eher an siebzig Prozent. Aber letzten
Endes geht es nicht um 600 der übelsten Schurken auf der Welt, sondern um
mindestens einige hundert, die überhaupt nichts getan haben. Man kidnappt
Menschen, die vielleicht völlig unschuldig sind, schafft sie ans andere Ende
der Welt, hält sie zwei Jahre gefangen, sagt ihnen nicht, was man ihnen
vorwirft, und gibt ihnen keinen Anwalt. Die Frage ist nicht, was an diesem
Verfahren falsch ist, sondern, was daran richtig ist.»
[ Aus dem Englischen von Matthias Fienbork The Guardian
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