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04. July 2005
«Wir möchten alle rauskommen»

In der Justizvollzugsanstalt Singen in Baden-Württemberg sitzen nur ältere Männer ein: Es ist der einzige Seniorenknast Europas. Die Gefangenen geniessen kleine, im Strafvollzug unübliche Freiheiten. Am meisten zu schaffen macht ihnen die Einsamkeit.

Es ist still im Seniorenknast, auf dem schmalen Gang entlang der tagsüber geöffneten Zellen, auf dem grossen Innenhof, wo sich zwei Gefangene beim Spaziergang fast verlieren, auch in der Werkstatt, wo eine Hand voll Männer Güter für den Massenmarkt vertütet. Der jüngste der 50 Insassen hier ist 58, der älteste 80, das Durchschnittsalter liegt bei 65 Jahren. In der Aussenstelle Singen der Justizvollzugsanstalt wird seit 1970 der Strafvollzug an älteren Gefangenen praktiziert - das einzige Gefängnis dieser Art in Europa. Es liegt an einer Seitenstrasse unweit des Stadtzentrums, gleich neben dem Gerichtsgebäude. Hohe Mauern und vergitterte Fenster lassen den Zweck erahnen. Zwei Schleusen gilt es zu passieren bis zum Verwaltungstrakt, eine weitere bis zum eigentlichen Gefängnis.

«Ich kann nichts daran ändern»

Die Überalterung der Gesellschaft hat auch hier ihre Spuren hinterlassen. Seit Anfang dieses Jahres gilt ein Mindesteintrittsalter von 63 Jahren - zuvor waren es 60 Jahre gewesen. Mit einem Altersheim hat die Anstalt dennoch kaum etwas gemein - trotz der hier vorherrschenden Stille. «Ich schätze die Ruhe sehr. In andern Gefängnissen ist der Lärm manchmal unerträglich. Doch das hier ist keine Endstation. Wir möchten alle wieder rauskommen», stellt Werner K. (alle Namen der Insassen sind geändert) klar. «Ich verbüsse meine Strafe. Doch draussen, da wartet noch ein gerüttelt Mass an Leben auf mich», meint der 68-Jährige, der, wenn er sich weiter so gut hält, im Herbst seine Entlassung erwarten darf. «Ich habe erwachsene Kinder, eine kleine Rente, möchte nochmals auf Skiern stehen - und eine neue Liebe finden.» Dazu dürfe er, der wegen Vermögensdelikten wiederholt Verurteilte, sich nichts mehr zuschulden kommen lassen. «Sonst wird das Seniorengefängnis doch noch mein letzter Aufenthaltsort.» Er fühle sich so wohl hier, wie es den Umständen entsprechen könne. «Ich ertrage das Eingesperrtsein mit Gelassenheit als Zustand, den ich sowieso nicht ändern kann», sagt K., der sich auf eine Therapie eingelassen hat, um von seiner Spielsucht wegzukommen. Manche Restriktionen, die in andern Gefängnissen gelten, gibt es im Seniorenknast nicht. Nach aussen geschlossen, nach innen offen, heisst die Devise der Gefängnisleitung.

Zellen geöffnet

Die Zellen oder «Hafträume», wie es in der politisch korrekten Beamtensprache heisst, bleiben nur während der Nacht geschlossen. Von 7 bis 22 Uhr sind sie geöffnet. Die Insassen können sie mit Vorhängeschlössern sogar selbst - aber nur von aussen - verschliessen, um unerbetenen Besuch anderer Gefangener zu verhindern. Frei zugänglich sind auch Duschen, Waschmaschinen (die Gefangenen dürfen, was in den meisten andern Gefängnissen nicht üblich ist, eigene Wäsche tragen) und, vielleicht der grösste Vorteil: Bis 20 Uhr beziehungsweise maximal bis zum Einbruch der Dunkelheit kann der Innenhof begangen werden. «Ich kenne andere Gefängnisse aus eigener Erfahrung», sagt Werner K., «die kleinen Dinge, die einem dort vorenthalten bleiben, sind lästig. Aber wenn du dich nur eine Stunde am Tag draussen auf einem oft winzigen Platz bewegen darfst, da wirst du irgendwann depressiv.» Der Innenhof vom Ausmass eines Fussballfeldes ist von einer fünf Meter hohen Mauer umschlossen. Der Blick reicht noch auf die Baumwipfel eines angrenzenden Parks, wo es sich Graureiher gerne gemütlich machen. Sie haben es auf die Fische im Gefängnisteich abgesehen, die nun - Ironie der Gefängnisgeschichte - mit einem Netz vor den Räubern geschützt werden müssen. Es gibt ein paar Sträucher, ein mit Kies bedecktes Volleyballfeld - und Geranientöpfe. «Das wäre in jedem andern Gefängnis undenkbar», erklärt Anstaltsleiter Peter Rennhak. Selten bricht einer aus

Die kleinen Freiheiten, welche die älteren Männer im Seniorenknast geniessen, schaffen ein Gleichgewicht. «Ausbruchsversuche sind extrem selten. Jeder weiss, was auf dem Spiel steht: die Versetzung in ein normales Gefängnis. Das diszipliniert ungemein», sagt Rennhak. Im Übrigen seien die meisten der Insassen auch körperlich kaum mehr in der Lage, eine fünf Meter hohe Mauer zu überwinden. Thomas V. wäre das durchaus zuzutrauen. Der 68-Jährige hat sich im Anstaltsfitnessraum die Statur eines Bodybuilders antrainiert. «Wir waren zu viert, als wir vor einem Jahr mit dem Training angefangen haben. Nach drei Wochen war ich alleine. Aber ich habe durchgehalten.» Auch sein Theologiestudium hat der studierte Sozialwissenschaftler an der Fernuniversität abgeschlossen. «Ich bin streng katholisch erzogen worden. Das prägt. Ich musste den Weg zu Gott nicht im Gefängnis suchen», meint V. und zeigt auf die Marien- und Christusbilder an der Wand seiner Zelle. «Die Gefängnisstrafe, zu der ich als Unschuldiger verurteilt worden bin, habe ich als Chance betrachtet, mich endlich Dingen zu widmen, zu denen ich sonst nicht gekommen wäre.» V. ist eine Ausnahmeerscheinung im Seniorenknast. «Meine Familie fehlt mir sehr.

Aber die Gefängniserfahrung, die ich so unvermittelt zu machen gezwungen war, möchte ich dennoch nicht missen.» Die erzwungene Beziehungsarmut mache nicht nur ihm zu schaffen. «Darunter leiden alle Gefangenen am meisten. Und wenn dann noch eine Beziehung während des Aufenthaltes hier in die Brüche geht, wird es ganz hart.» Selten sei das leider nicht. «Ich habe einige erlebt, denen es jetzt schlecht geht.» Wenn die sechs Stunden Besuchszeit monatlich, die jedem Gefangenen zustehen, plötzlich nicht mehr ausgeschöpft werden, «dann bist du hier drin richtig einsam». Denn Solidarität sei im Knast die Ausnahme von der Regel. «Man respektiert sich. Aber Freundschaften entwickeln sich daraus keine», sagt Thomas V.

Schwierige Rückkehr

«Schwere Jungs» sind sie alle, wenn man auf die Dauer der Strafen abzielt, die im Schnitt bei fünf Jahren, im Minimum bei 15 Monaten, im Maximum bei lebenslänglich liegen. Heute dominieren mit einem Anteil von 50 Prozent die Sexualstraftäter, während Gewaltverbrecher und Betrüger, die je einen Drittel der Insassen gestellt hatten, auf je ein Viertel geschrumpft sind. Im Strafvollzug ist in jenen Fällen, wo die Delikte innerhalb von Familien begangen wurden, die Reintegration in die Gesellschaft die schwerste Aufgabe. «Wir suchen eine Versöhnung zu fördern», sagt Dienstleiter Thomas Maus. Doch das sei oft kaum möglich. Betreutes Wohnen sei dann häufig die beste Alternative. Einsamkeit wird für viele der Insassen in der Freiheit zum täglichen Begleiter. Denn das unterscheidet sie am meisten von den übrigen Häftlingen, deren Altersschnitt bei 25 liegt: Mit 70 wird ein Neuanfang zum Herkulesakt.

Urs Fitze

Demografisch bedingt

Die Zahl der Senioren, die ein Verbrechen begehen, ist im Steigen begriffen. Singen wird nicht lange das einzige Gefängnis in Deutschland unterhalten, das ausschliesslich Pensionäre beherbergt. In Niedersachsen soll sogar ein altersgerechtes Gefängnis gebaut werden. Das Statistische Bundesamt meldet für Deutschland einen Anstieg der Alterskriminalität um 28 Prozent seit 1995. Von 2001 bis 2003 stieg die Zahl der inhaftierten Senioren um mehr als 400 an. Als Gründe werden die demografische Entwicklung angegeben, aber auch, dass für Rentner der Lebensunterhalt immer schwieriger zu finanzieren ist.

In der Schweiz ist die Entwicklung noch nicht extrem. Anfang März waren in der Strafanstalt Regensdorf 7 von 330 Gefängnisinsassen mehr als 60 Jahre alt (NZZ vom 3.3.). Aber die Zahl alter Delinquenten nimmt ebenfalls zu. (th)

[  tagblatt.ch





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